Das Carlton Centre in downtown Johannesburg ist das höchste Gebäude der Stadt und war einmal das höchste Gebäude des Kontinents, weshalb sein Aussichtspunkt in der 50. Etage noch immer top of africa genannt wird.
Die entscheidenden, jahresbeginnenden Tage der NGO Sophiatown sind vorüber, die Planungen für 2013 in Worte und Personal eingeteilt.
Zweieinhalb Tage saßen alle Mitarbeiter im House of Dreams zusammen und hörten sich zu, ließen ausreden, argumentierten, lachten. Das sogenannte strategisches Treffen fand statt. Seit vielen Jahren dient es dazu, den jeweiligen Kollegen und der Teamspitze mitzuteilen, was an Projekten beibehalten werden soll, was aussortiert werden muss und was neu hinzukommen darf.
Am ersten Tag resümierten wir das Vorjahr, ließen Revue passieren, welche drei Ereignisse jede Person besonders und nachhaltig beeindruckten, besprachen Finanzielles, Umsetzungen von ethischen Richtlinien und schätzten unseren persönlichen Stil ein. Zur Auswahl standen: nachdenklich/ruhig, aufgabenorientiert, emotional und rational. In den so gebildeten Stilgruppen diskutierten wir die näheren Charakteristika dieses Stils, seine Nachteile, die Konflikte herauf beschwören können und zentrale Botschaften, die die Stilträger nicht unbedingt immer mitteilen, die aber dennoch gehört werden sollten (besonders von denjenigen, die sich einer anderen Stilgruppe befanden).
Wieder einmal geschah meiner Auffassung nach etwas sehr Außergewöhnliches: diese Gruppenaktivität nimmt eine Kategorisierung vor, der ich nicht vollkommen zustimmen kann. Sie geht zum einen altmodisch davon aus, dass der sog. trait-Ansatz noch immer Gültigkeit besitzt (sein Kontrapunkt wäre die situationale Erfassung von Verhaltensweisen und Verhaltensbeschreibungen, seine dialektische Verknüpfung die interaktionale Auslegung von Verhalten) und dass sich die rasterartigen Kategorien nicht überschneiden. Zum Glück kam schnell die Frage auf, wie man die Rasterung zu verstehen hätte, denn einige Positionen schreien ja geradezu danach, mehr als nur einer Gruppe anzugehören. Denn wie könnte ein psycho-sozialer Berater eindimensional rational oder emotional oder-oder sein, um in seiner Tätigkeit beraten zu können? Die Antwort ist eine seichte Verschleierung des Ausgangspunkts und entspricht nicht mehr der Anleitung für die folgende Diskussion: es ginge ja nur um die prädominante Eigenschaft.
Das andere Außergewöhnliche ist das tatsächliche Funktionieren der Aktivität: alle waren involviert, keiner machte Scherereien, jeder fühlte sich horoskopartig verstanden und im Rückblick auf die verbrachten Tage, waren sich alle einig, dass dieses Spiel das Herausragendste war.
Von vornherein geschlagen wählte ich die Ratio als meine prädominante Gefährtin und diskutierte die Vorgaben.
- Charakteristika: strukturiert, planvoll, geordnet, sachlich, systemartig, prozess- und ergebnisorientiert, antizipativ;
- Nachteile: z.T. unflexibel (rigide?), kalt, wenig kreativ, wenig Verständnis für die eigenen Grenzen, stur (überzeugt von eigener Richtigkeit);
- Nachrichten an die Außenwelt: "Der Plan wird funktionieren!"
Was sind Passionen? Es sind Aktivitäten jeglicher Couleur, die das Herz schlagen lassen, für die man nicht mehr schlafen will oder, wenn dann doch der Schlaf eintritt, die man sich vornimmt, am nächsten Tag wieder aufzunehmen. Die Augen leuchten und sind groß, die Gespräche ausufernd und ohne den Blick auf die Uhr. Gruppengemäß haben die prädominant Emotionalen einen inhärenten Vorteil in der flammenden Darstellung ihrer Passionen. Wir, die Strukturierten, tragen in angemessener Nüchternheit vor, was die Vorteile A, B und C der eigenen, als verstärkend reflektierten Hobbys sind und breiten dann aus, was die Nachteile 1., 2. und 3. sind.
Auf Grund des unbedingten Willens der organisatorischen Spitze, möglichst jede Passion in die NGO einzubringen - nach dem wenig hinterfragten Konzept der maximalen Ausbeute von Motivation (Motto: "Je mehr Motivation, desto größer der Gewinn") - wurde sodann gefragt, welche Gruppen in diesem Jahr von den Passionierten praktikabel geleitet werden könnten.
Da dies im Sinne der Freiwilligen traditionell der Teil ist, in dem sie sich selbst verwirklichen können, stellten Ricarda und ich unsere Vorstellungen dar. Ricarda wird eine Tanzgruppe neu starten bzw. fortführen, die bereits Kira im letzten Jahr begonnen hat. Ihre Motivation bilden ihr starker Drang zum Tanz und ihre Liebe zur Musik.
Ich dagegen will mit "schwierigen" männlichen Jugendlichen (boys at risk) raus aus einem festen setting und jeweils neue (urbane) Räume entdecken. Meine Passionen: Neugier und Entdeckungslust, Aktivitätsorientierung, Sport und Stadt (besonders: leere Architektur, wie z.B. das Carlton Hotel, das im obigen Bild rechts zu sehen ist. Ein Ort des ehemaligen Funktionalismus, das 1997 komplett geschlossen und stillgelegt wurde).
Was die Details betrifft, so schreibe ich noch am Exposé. Klar ist, dass ich nicht im Büro sitzen will, weil genau das bei denjenigen, die ich anvisiere, nicht gefruchtet hat. Diese Jungs sind der Organisation bereits bekannt, es wurde versucht, sie in psychosoziale Gruppen einzubeziehen, aber sie sprechen einfach nicht. Meine Idee ist nun, sie aus ihrem jeweiligen Umfeld in andere Szenerien zu führen und mich auch von ihnen führen zu lassen. Alles, was ich dazu verlange, ist die Flexibilisierung meiner Arbeitszeit, da ich nicht glaube, dass ich innerhalb der strikten Bürozeiten agieren werde.
Der Gedanke hinter dieser Gruppe, das Metathema des Konzepts, ist, das Informelle aufzuspüren und Teil davon zu sein. Schon häufiger berichtete ich von der Nischenverfügbarkeit von Joburg, einem Charakteristikum, das geordnete Großstädte Europas nicht mehr aufweisen (können). Ich will diese Nischen noch besser sehen und dazu brauche ich die Jungs (wie sonst könnte ich Teil eines Izikhotane events werden?)
Der halbe dritte Tag unseres Treffens lief auf die konkrete terminliche Fixierung hinaus, nicht aber ohne eine Debatte um die Evaluation der Organisation zu verpassen. Hierbei entdeckte ich, dass ich mein Studium nicht ohne Symptome verlassen habe: eine bisher unerwähnte Passion ist wohl meine Liebe zu Zahlen, genauer zu Statistiken, die die Aufgabe der Kontrolle innehaben.
Ich erinnere mich genau an meine Niedergeschlagenheit als ich aus der Methodikprüfung kam und nicht fassen konnte, was ich da fabriziert hatte. Dass, was ich begann zu schätzen und zu begreifen, konnte ich damals nicht verbalisieren.
Gestern konnte ich aber sehr wohl darstellen, was für mich Probleme eines halbgaren Quantifizierungsansatzes sind, der alle bisherigen Entwicklungen der Organisation außer Acht lässt und nur künftigen Sponsoren dienlich sein soll.
Im dahin scheidenden Jahr 2012 schrieb ich einen Report, der meine beratenden Stunden illustrieren sollte. Er wurde in einer besonderen Struktur eingefordert und ich beugte mich. Die in ihn eingeflossenen, mageren, aber deskriptiven Statistiken wurden aggregiert und interpretiert. Und zwar in einer Weise, die mein methodisches Blut gefrieren ließ.
Mit alleinigem Vertrauen auf klinisches Urteil (versus Testurteil) eines jeden Mitarbeiters wurde interpretiert, wie viele der gesehenen Personen eine subjektive Besserung erlebt hätten. Daraus wurde schnell ein Prozentsatz und nur dieser wurde ausgedruckt.
Mit mangelnden Voraussetzungen wird aus qualitativem Urteil Quantität.
Ich stritt also für Aufklärung und Anstrengung. Ich machte meine Punkte deutlich, betonte die Andersartigkeit der hiesigen, organisatorischen Arbeit, der fehlenden Eindeutigkeit von Hypothesen zu Krankheitsbildern, die kaum standardisierte Testverfahren zuließe, die Diversität der Hintergründe der Mitarbeiter (Nonnen, Sozialarbeiter, Psychologen, community worker, Lehrer, etc.) - kurzum: ich plädierte für die Anerkennung eines qualitativen Ansatzes der nur deskriptiv quantifiziert werden dürfte und weigerte mich, jegliche Inferenzstatistik zuzulassen (es sei denn, es werden gewisse, methodisch einwandfreie Voraussetzungen geschaffen, wie z.B. eine Verbesserung des Datenbanksystems im Sinne der zu programmierenden Reporte, eine Einführung von Testverfahren, die die verschiedenen Faktoren der nicht standardisierten Populationen berücksichtigen und nicht-einmalige workshops zu Methodik und Evalutation).
Schlussendlich waren die Stunden des Planens vorüber und ich konnte mich erneut meinen literarischen Kriminalfällen intensiv hingeben (Chandler und Conan-Doyle).
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