2012-12-29

Skateboarding.

The Iron Fist. 

Das Skateboardfahren ist eine nicht zu unterschätzende Balancekunst und diesen Satz in Gänze nachvollziehen zu können, heißt, bereits auf einem board gestanden zu haben. 

Seitdem ich in meinen Weihnachtsferien verschwunden bin, fahre ich beinahe täglich Skateboard. Spuren sind hinterlassen, auf dem Deck und an meinem Körper. Das Board sieht nicht mehr so aus, wie auf dem Bild dargestellt, einige Kanten sind gesplittert und das grip tape angegriffen. Ellbogenschürfwunden, halbe Handverstauchungen, Schulterhautabrieb, die blauen Flecke an Knien, Schienbeinen, Fußknöcheln - sie zieren mich und ich empfinde sie als Befreiung, als Wiedererleben des so lange nicht Gelebten. Das Fallen gehört zu diesem Sport dazu: es gibt keine Versicherung, es gibt nur das zumutbare Risiko und die Freude, etwas auf diesen vier Rollen angestellt zu haben, was zuvor noch nicht ging. 

Zum Skateboard selbst kam ich über altbekannte Angewohnheiten: das südafrikanische ebay heißt gumtree (und es wurde auch von Kijiji/ebay gekauft, siehe "About us" on gumtree) und ich fahndete nach einem Boardbesitzer, der sein Skateboard abgeben wollte. Ich handelte leicht herunter, traf ihn in einer mall, bezahlte und war fortan skater. 

Ich begann erst einmal damit, mich auf dem Brett wohl zu fühlen (diese Übung hält bis zum heutigen Tage an). Ich probierte verschiedene Straßen aus, suchte nach Plätzen und nach Parks. Ich erkannte schnell, dass das Skateboard das Lokale verlangt und nicht sein Gegenteil, soll heißen: die Straßenecke in 50-metriger Distanz ist die bessere Wahl zum 20 Kilometer fernen Skateboardpark (http://www.reprobait.com/spot-map/). 

An dieser Ecke sammele ich seither Skateboardfreunde: seit meinem Beginn tricksen Jugendliche und junge Erwachsene mit mir herum, ärgern sich über frequente Autofahrer, fallen vom Brett, reinigen ihre Rollen und sprechen über Wert- und Weltvorstellungen, z.B. warum das Christentum ein lifestyle ist und nicht etwa, wie häufig missverstanden, eine Religion. 

Ich genieße das. Alles. Das Lose der Verabredungen, das Nichtorganisierte, das Regellose der Tricks, das kurze Gespräch, die Abwechslung von Selbsttun und Zuschauen, das Finden meiner Balance. 

PS Im Wissen, dass ich nicht zeitlich unbegrenzt Skateboardfahren kann, suche ich, besonders häufig an unbewölkten, heißen Vormittagen, nach Berufen: Ich weiß, dass ich zurück kehren werde nach B., weiß, dass dazu Geld nötig sein wird, weiß, dass ich nicht unbedingt die Tristesse psychosozialer Arbeit will. Was dann? Piece jobs with Johnny Cash on my mind: "Money can't buy back/Your youth when you're old" ("Satisfied Mind"). 

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2012-12-16

Musikalische Gelüste .

Johannesburg, 15. Dezember, Abendstunden, Blick auf das Carlton Centre

Gestern tanzte ich den ganzen Tag lang auf einem Dach in der Innenstadt. Nahe des "Arts-on-Main" Gentrifizierungsdiskurses richtete resident advisor (RA) ein einladendes line-up aus. Selbst der Regen bewirkte kein Desinteresse, die Menschen strömten und tanzten mit mir. 

Ich suchte bereits seit längerer Zeit nach einer solchen Gelegenheit, denn so schön meine Kopfhörerabende sind, so monoton nehmen sie sich aus, wenn keine Alternative zu ihnen besteht. 

Musikalisch erlebte ich Gemischtes. Seth Troxler, der gerade von RA gekürte top DJ 2012 spielte auf, vor ihm und nach ihm die etablierten local residents. Während jener als (hiesig) progressiv eingestuft werden kann, wegen seiner ungewöhnlichen Art, nicht nur die Ohren, sondern den ganzen Körper in Vibration zu versetzen, sind diese meiner Auffassung nach gefangen in dem Begehren ihres Publikums. 

Südafrika liebt house: minimal ist Rarität, nach Nicolas Jaar zu verlangen, ein zu früher Gedanke. Ich kam mit R. ins Gespräch, der seit vier Jahren als DJ in Johannesburg lebt. Er beschrieb, dass elektronische Musik zwar sehr angesagt sei, die Hörvoraussetzungen allerdings völlig anders zu denen in Europas Metropolen seien. Der von Terre Thaemlitz als shitty house (in Midtown 120 Blues, DJ Sprinkles, Mule Musiq) bezeichnete Einsatz von vocals hat hier Hochkunjunktur. Pop-Radio-House-Samples werden in Trommel-Beats gemischt und sind ob ihrer ohnehin starken medialen Verbreitung auf der Tanzfläche populärer als die Neuerungen und Entdeckungen, die ich von jedem DJ als Künstlernatur erwarte. Insofern enttäuschte mich sowohl so manche Publikumseingabe der locals als auch die Rezeption.

Während ich also Seth Troxler aufgeregt zuhörte (mit äußerst sorgsam toilettenpapiergeschützten Innenohren) und mich zu seiner Auswahl bewegte, standen ein paar Menschen einfach nur da. Der Stil sagte ihnen nichts, weil keine Radiosongzeile über den Verlauf einsetzte. 

In über den Abend verteilten, wiederkehrenden Gesprächen mit R. erfuhr ich zudem, dass die Innenstadt keine Orte für elektronische Musik böte und dass dieses gestrige event eine Ausnahme sei. Rosebank, ein reicherer, nördlicher Stadtteil, sei eher geeignet, um Partys zu besuchen, auf denen techno, house, dubstep und weitere musikalische, elektronische Subgenres gespielt würden. 

Ich halte weiter Ausschau und in Erinnerung, dass dieser Abend holistisch grandios war. 

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2012-12-01

Absage an Jahreszeitstrukturen.

Ich bin noch nicht ganz reif für diesen Gedanken, d.h. er ist noch nicht zu Ende gedacht (aber was ist das schon?). Ich begegne einer neuerlichen Veränderung, die sich aber schon über mehrere Jahre anbahnt. Es geht um strukturierende Zeiten und den Umgang mit diesen. Der Anlass zur Frage und zum Gedanken? Die Zeit bewegt sich auf das Ende des Jahres zu, aber ich bin raus aus meiner Gewöhnung, aus meinem Habitat. In meinem bisherigen Leben wurde es kalt zum Jahresende, die Menschen, darunter ich, fanden, dass es Zeit wäre, die Tierpelze aus der Mottenkiste zu holen und sich gegenseitig darüber zu informieren, wie schlecht es um den Tiger, die Luchse im Allgemeinen und einige Schlangenarten stehe. Letzteres konnte man aber nur tun, wenn man in der tropischen Ausgangs- und Eingangsbrise großer Einkaufszentren stand und den Kragen aufschlug. Der in diesen Gesprächen wichtige Türaufhalter, der gleichzeitig als Sicherheitspersonalangestellter fungierte, küsste Luftküsse an die gnädigen Hände älterer Frauen und reichte halbgefüllte Champagnergläser mit Qualitätsschaumwein darin. Überall quellten Kunststoffimitate von Nadelbäumen hervor, Kassiererinnen erkannte man daran, dass sie gezwungen wurden, rot-weiße Pudelmützen zu tragen und ihr Dauerlächeln sogar in die Pausen mitzunehmen. 

Wurde der Schritt aus den Kaufrauschpalästen dieser Welt gemacht, pfiff der Wind eisig und manchmal fiel Kaltnasses unterschiedlicher Dichte auf die lederbespannten Hände und die Designer-Frisur war sofort ruiniert, es trübte sich die gerade noch so schöne Kolonialwarenstimmung und unmäßig viele Schirme, meistens in Alltagsschwarz gehalten, spannten sich ins jeweilige Gesichtsfeld, obwohl nur fünf Schritte zum nächsten Automobil oder zur Untergrundbahn gemacht werden mussten. Die menschliche Fraktion der Weltenretter trug in den Wintermonaten Kleidung nach dem Zwiebelprinzip und verwies jeden, ob interessiert oder nicht, auf den aktuellsten Report der CCC (Link zu Inkota/Kampagne für saubere Kleidung). Hinter vorgehaltener Hand erfuhr man noch, dass einige schreckliche Fauxpas geschehen seien, wegen derer man sich nicht nur schämen, sondern auch zwingend handeln müsse. Marke X sei im Report gut weggekommen, Y allerdings überhaupt nicht, weshalb man nun unbedingt verramsche und neu kaufe: Wer hätte schon vor zwei Jahren gedacht, dass Y unter so schlechten Bedingungen arbeiten lasse. Entrüstung, Empörung, Skandalrufe und schließlich der gereckte freundliche Daumen anstelle des Händedrucks. 

Wenn all diese Zeichen auch fehlgedeutet und als Ausdrücke anderer Visionen interpretiert werden konnten, so entging dem sensiblen Betrachter nicht, dass Glühwein- und Zuckergerüche die hell geschmückten und überstrahlenden Plätze der Städte durchzogen und Kindergeschrei die anwesenden Eltern darauf aufmerksam zu machen versuchte, dass ein oder zwei Kirmesgeräte doch der Besichtigung und des Ausprobierens wert waren. Und wenn das eben nicht ging, weil das schöne Geld bereits in die Nikolaus- und Weihnachtsgeschenke geflossen war, die von charmant-betrügenden Verkaufsdamen den Vätern als wertvoll angepriesen und verkauft wurden, dann gab es eben gebrannte Mandeln als Ersatz, Zuckerwatte zur Vor-, Lebkuchenherzen als Haupt- und weißchoklierte Äpfel als Nachspeise. 

In solchen perzeptiv-überdeutlichen Momenten wurde mir meistens schlecht. Dann erinnerte ich mich, welche Besorgungen ich noch zu machen hatte und schnellte mit finsterer, gefrorener Miene zurück ins warme Flimmern ungefilterter Weihnachtlichkeit. 

Alles anders hier? Nein, das ist es nicht, prinzipiell spielt sich alles auf mich perplex zurück lassende Weise ähnlich ab, allein die Temperaturen veranlassen zu anderen Umgangsarten. Flipflops statt Stiefeletten. Knallige Shorts statt wattierten Hosen. Unterhemd statt Daunenjacke. Und doch der gleiche gierige Blick, die gleiche Einkaufszentrenverstopfung, der gleiche Kaufzwang für alle. 

Ich stehe minutenlang einfach da und fühle, bis auf mein Unverständnis, nichts. Mich geht nichts an. Die Entfremdung vielleicht. Aber die kenne ich schon. 

Ich erinnere mich, wie ich bereits zuvor die Regularitäten durchbrochen habe. Was bedeutet ein Wochenende während der Studienzeit, wenn an jedem Tag das Gleiche verlangt wird? Der Einkauf von Nahrung kann jederzeit geschehen, die Bibliothek hat 16 Stunden offen und die meisten Materialien sind allgegenwärtig und digital verfügbar. Die Bestimmung meiner eigenen Zeitlichkeit kannte keine Grenzen bis auf meine biologischen - ich lebte im Zeitwohlstand. Und ich lebe ihn noch (Link zum Editorial der bpb-Broschüre "Zeitverwendung"). Was bedeutet eine Jahreszeit, wenn es keinerlei klimatische Schwankung gibt? Was bedeutet ein künstliches, areligiös gewordenes Fest, dessen Leere nur noch mit Geschenken gefüllt werden soll? Was bedeutet der Wechsel von Jahren, wenn jederzeit die höhepunktartigen Feierlichkeiten stimuliert und erlebt werden können? 

Viel Sonne, manchmal Regen, selten das Grau der Wolken, das mir am ehesten zuspricht. 

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2012-11-22

Drei Monate Johannesburg: Von Unpünktlichkeiten, Elektrizität und nächtlicher Paranoia.

Dieser Eintrag stellt eine verkürzte Version meines ersten Quartalsbericht dar. Allen offiziellen Spendern sollte der ganze Bericht als pdf-Datei in den nächsten Tagen vom Welthaus Bielefeld zugesandt werden.

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Seit rund drei Monaten bin ich in einer neuen städtischen Umgebung, die mir noch vor einem Jahr in vielerlei Hinsicht unbekannt war: Johannesburg, die viel beschworene Stadt des Goldes. Ich verdanke diesen Umstand meiner Neugier, meinem Willen, auszubrechen, meinem Wünschen, woanders, und, weit weg von allem Gewohnten zu sein, und natürlich denjenigen, die mir Gelegenheit dazu gaben.

Teil I Arbeit und Struktur.
(für diesen Titel danke ich Wolfgang Herrndorf) 


Sophiatown Community Psychological Services (SCPS) ist eine Nicht-Regierungs-Organisation (NRO), die in Johannesburg seit 1984 psycho-soziale, gemeinschafts-basierte Intervention kostenfrei anbietet. Seit dieser Zeit ist viel in Südafrika geschehen: das Ende der Apartheid, die demokratische Ära des African National Congress (ANC), die Integration immenser Flüchtlingsströme aus Gesamt-Afrika und schließlich organisationsintern eine Umbennung - aus ehemals Reginald Orsmond Counselling Services (ROCS) wurde SCPS.

Aufgeteiltes Johannesburg. 

SCPS arbeitet an zwei Stellen in Johannesburg: im Westen, in Westdene, nahe dem ursprünglichen Sophiatown-Bezirk, und im Osten, in Bertrams, einem Bezirk, der enger mit dem Zentrum der Stadt verbunden ist.

Der Fokus der Arbeits des West-Büros liegt auf Soweto. In den South Western Townships Noordgesig, Orlando East und Orlando West, Pennyville und den squatter camps (Wellblech- und Pappverschläge bilden Häuser und diese füllen ehemalige Gewerbefelder o.Ä.) von Zamimphilo und Slovo Park (siehe auch: informalcity.co.za) vollbringen Sozialarbeiter und community worker betreuende psycho-soziale und -edukative Arbeit (siehe auch: Help. (Hilfe); Blog-Eintrag). Dabei spielen sowohl Kinder und Jugendliche in den Schulen als auch ganze Familien eine Rolle. Die Idee des Gemeinwesens prägt die alltägliche Arbeit der gesamten Organisation. Zwar wird individuelle Psychotherapie angeboten - mit terminlicher Vereinbarung, 50-Minuten-Gespräch und Hausaufgaben -, aber die Vision der Organisation sieht vor, gemeindeorientiert zu arbeiten und damit ein Stück Gesellschaft zu verbessern (siehe auch: Neue Zeiten; Blog-Eintrag).

Das Ost-Büro fokussiert derweil auf die nahe Umgebung: Bertrams ist ein Stadtteil, in dem viele Flüchtlinge aus der Demokratischen Republik Kongo (DRC) leben. Es ist außerdem ein Stadtteil, der in den xenophoben Unruhen 2008 eine wesentliche, wenngleich unrühmliche Prominenz erlangte. Bertrams und das nebenan liegende Troyeville waren Leuchtfeuer der fremdenfeindlichen Übergriffe. Flüchtlinge mussten sich in Polizeistationen und Schulen verschanzen, um nicht vom wütenden Mob umgebracht zu werden.

Die Organisation SCPS diente in dieser Zeit ebenfalls als Schutzraum - ein Engagement, das sich heute immer noch in der Bekanntheit der Adresse unter Johannesburger Neuankömmlingen und der Flüchtlingspopulation niederschlägt.

Koinonia. 

Als ich ankam, lebte ich für eine Übergangszeit von vier Tagen in Koinonia (siehe auch: Inseln; Blog-Eintrag). „Koinonia” ist griechich griechisch und bedeutet „Gemeinschaft durch Teilhabe”. Es ist ein Konvent der Dominikanerinnen, die mich und alle anderen Freiwilligen sehr herzlich aufnahmen und versorgten. Beinahe täglich radele ich am Konvent auf meinem Weg zur Arbeit vorbei und grüße still die Schwestern, bei denen ich leider seit unserem kurzem kurzen Besuch nicht mehr geklingelt habe. 

Nach dieser initialen und ersten Transition und der Auflösung der Gruppe der Freiwilligen, die spätestens am dritten Tag nach Ankunft in ihre jeweiligen, landesweiten Projekte entsandt wurden, konnten Ricarda und ich (wir sind die Freiwilligen für Johannesburg) ins sogenannte „Haus der Träume” einziehen (siehe auch: Das ist unser Haus; Blog-Eintrag). 

Unser Kollege und Mitbewohner Thotho erwartete uns schon und wir waren zufrieden, endlich an den Ort zu gelangen, an dem wir nicht nur auspacken und ankommen konnten, sondern der auch für die nächsten zwölf Monate unser temporäres Zuhause sein würde.

Thotho. 

Thotho wurde übrigens in Ruanda geboren und flüchtete, wie so viele andere, wegen des Kriegs aus Zentralafrika nach Südafrika. Er spricht Kinyarwanda, Französisch, Kiswahili, Englisch und versteht ziemlich viele südafrikanische Sprachen, darunter die beiden bedeutendsten: Zulu und Xhosa. In den SCPS ist er Übersetzer, Berater und community worker in einem und somit ziemlich unersetzlich. Seine Qualifikationen werden allein dadurch übertroffen, dass er ein herzensguter, liebe- und humorvoller Mensch ist. Seine Fähigkeiten, beispielsweise mit Kindern umzugehen, sind für mich steter Maßstab, einer adäquaten kindlichen Sprache, der Verbindung von Spiel und Ernst, die erst Vertrauen ermöglicht. Ich bewundere sehr, was er tut und spricht. Zudem brachte er Ricarda und mir bei, wie pap gekocht wird (ein Grundnahrungsmitel aus Maismehl, das auch bekannt ist als ugali in Ostafrika).

Passungen und Projekte. 

Wie passe ich als Freiwilliger in die Organisation? Wie passe ich als Psychologe in die Organisation? Wie passe ich als freiwilliger Psychologe in die Organisation? 

Von Beginn an wurde eine Unterscheidung von Ricarda und mir vorgenommen, die darin resultierte, dass unsere Aufgaben verschiedenartig sind. Meine psychologische Vorbildung wollte ich keinem verhehlen und so wurde ich nach wenigen Tagen schon mit anderen Aufgaben versehen, als Ricarda. 

Neben den wöchentlichen Klienten, die ich derzeit regelmäßig sehe (eine 18-jährige Frau und ein 11-jähriger Junge), den screenings bzw. Vorgesprächen (sie dienen dem Abklären des Anlasses zur Beratung und den Mitteln der Intervention), gibt es ein Projekt, das ich mitverantworte. Es nennt sich beautiful world und wird finanziert von einer kanadischen Stiftung (beautifulworldcanada.org), die als Statut angibt, weltweit Kindern und Jugendlichen eine gezielte Bildungsförderung zukommen lassen zu wollen. 

Während diese Stiftung die monetären Angelegenheiten übernimmt, so ist sie doch nicht dazu im Stande, in den jeweiligen Ländern und Städten die konkrete Förderung durchzuführen. Dazu benötigt sie etablierte Partner, denn Geld irgendwo auszuschütten oder gar einfach an jemanden zu überweisen, ist mitunter so sinnvoll, wie Wiesen unter brennender Zenithsonne zu bewässern - Verdunstungseffekte treten auf. 

Deshalb (und wegen diverser Beziehungsverflechtungen) wurden die SCPS gefragt, ob sie eine Art Pilotstudie durchführen wolle, in der zehn Kinder und Jugendliche gezielt gefördert werden. Die Organisation sagte ja, die Mitarbeiter wurden nach motivierten Klienten gefragt, das bürokratische Prozedere lief an und mittlerweile gibt es neun Schüler, deren schulische und weitere Ausbildung durch die beautiful world Finanzierung unterstützt wird. 

Wieder spielen beide Büros zusammen: auf der Westseite werden drei Lerner betreut, auf der Ostseite die restlichen sechs. Ob Schulwechsel, Schuluniform, Schul- und Büchergeld, Bibliotheksanmeldung, Universitätsgebühren, Transportkosten, Studienunterkunft oder Karriereplanung und Nachhilfe - die jungen Lernenden können sich an uns wenden, um materielle und sozial-edukative Unterstützung einzufordern. Demgegenüber verlangen wir einen regelmäßigen und zuverlässigen Kontakt, eine hohe Motivation und die Zusicherung der Erziehungsverantwortlichen, in gleicher Weise unterstützend zu sein, sodass die schulischen Leistungen verbessert werden können (Einschlusskriterium für die Kinder und Jugendlichen war nicht, ihr aktueller Leistungsstand oder ihr intellektuelles Vermögen). 

Meine Rolle ist die eines Koordinators. Ich telefoniere, um Verabredungen zu vereinbaren, treffe mich mit den Lernenden und deren Eltern, um Unterstützung einzufordern, mache Hausbesuche, um die jeweilige Lernsituation besser zu erfassen, gehe zu Universtitäten und Colleges, um deren Qualität besser beurteilen zu können, da das alleinige Ansehen von Internetseiten meist nicht hinreichend ist. 

Manchmal sind kleine, aber wesentliche Dinge zu tun: eine junge Frau benötigt einen Augentest und sehr wahrscheinlich eine Brille. Die Erkenntnis kam, als wir vor einem Computer saßen und sie den Bildschirm beinahe mit ihrer Nase berührte.

Frustrationen der Arbeit, Spitzen des Alltags. 

Der Titel einer Ausgabe einer deutschen Popwirtschaftszeitung wurde im Jahr 2010 geziert durch einen Mann, der ein T-Shirt mit folgendem Satz trug: „If I ran the world, I would make work more flexible” („Könnte ich auf der Welt [etwas] bestimmen, ich definierte Arbeit flexibler”). 

Ich schließe mich dem Satz an. Was stört? Mich stört, dass ich in einer Organisation arbeite, die simultan eine biegsame bis spontane Tagesplanung verlangt und gleichzeitig in ihren Arbeitszeiten und -orten so unflexibel ist wie ich es nur aus bürokratischen Strukturen kenne, die den Dienst nach Vorschrift geradezu verlangen. Von acht Uhr am Morgen bis 16 Uhr am Nachmittag besteht eine Anwesenheitspflicht. In modernem Arbeitsdeutsch könnte ich auch Kernarbeitszeit formulieren. Mindestens in der Frühe und häufig auch am Nachmittag gibt es eine Überdehnung dieser Kernzeit. Am Morgen gilt (für Thotho, Ricarda und mich), das Büro aufzuschließen, am Nachmittag, das Büro abzuschließen. Der Nachmittag aber wird oft verlängert durch haushälterische Aufgaben, die noch vom Tage liegen geblieben sind, wie das basale Reinigen der Toiletten, das Waschen des Geschirrs und das Umparken des Organisationsautos. 

Der flexible, verlangende Teil bedeutet, keinen Raum zu haben, der fest ist. Mit der Abwesenheit eines Schreibtischs kann ich gut leben - ich präferiere ohnehin die sogenannte Schreibtischteilung. Aber das ständige Verscheuchen von Raum A in Raum B, weil A gerade und ganz schnell für einen Klienten benötigt wird und die anschließende Erkenntnis, dass B ebenfalls besetzt ist und nur noch der stetig unruhige Raum C übrig bleibt, das führte bei mir in den ersten Wochen zur Frage, wie psychotherapeutische, psychosoziale oder beratende Tätigkeiten eigentlich in dieser Umgebung durchführbar seien. Mir war und ist dieser Modus sehr fremd. Meine bisherigen Erfahrungen und mein erarbeiteter Wissensstand sprechen sich aus für stark strukturierte Zeiten und Räume. Die psychotherapeutische Beziehung ist geprägt durch die ungebrochene Aufmerksamkeit des Therapeuten. Der Klient oder Patient macht damit eine Erfahrung, die für ihn nicht alltäglich ist: er wird gehört. Es wird ihm aktiv zugehört. Die Urteile werden zurück gehalten, die Abgeschiedenheit und Stille signalisieren den vertrauensvollen Umgang mit seiner Sprache und seinen Gedanken. 

Was ich bisher erlebe, ist eine polarisierte Form des Gegenteils. Türen werden geöffnet, um nachzuschauen, ob Räume frei sind. Die Nebengeräusche variieren von Kindergeschrei und -spiel auf dem Flur bis hin zu ausgedehnten Gesprächen. Die geöffneten Fenster tragen Radiomusik der Autos und Wohnungsmusik der Nachbarschaft hinein. Ich habe im Kopf, dass andere auf den Raum eventuell warten und da ich nur Freiwilliger bin, ist meine Raumberechtigung, gerade wenn es um etwaige Bildungsinterventionen geht, kleiner als die der anderen Berater. Kurzum: ich fühle Ablenkung. Und enttäuschte Erwartung. Denn ich erfülle meine eigenen Ansprüche bei Weitem nicht. 

Ein Weiteres frustrierendes Etwas, das mich seit meiner Ankunft im professionellen Bereich begleitet, ist die regelmäßige Unpünktlichkeit, die beinahe jedes Planen und Organisieren torpediert. Bei gleichzeitig hoher Wertschätzung der Tugend der Zuverlässigkeit und ihrem herausragendstem Symptom, der Pünktlichkeit, ist die hier erlebte zeitliche Relativität etwas derartig Neues für mich, das ich mich jedes Mal persönlich angegriffen fühle, wenn ein Klient Stunden später eintrudelt (bei einer Gelegenheit war es sogar eine Woche). 

Ferner löst dieses Symptom weitere zeitliche Relativitäten aus: ich plane mittlerweile einen weitaus größeren Zeitraum für Gespräche ein, als notwendig, da ich in den meisten Fällen der Unpünktlichkeit davon ausgehen kann, dass der Verabredete doch noch kommt. Bisher hat sich für mich noch keine zeitliche Regel etabliert, nach der ich den einen Termin expedieren und einen anderen einhalten kann, weil die Variationen zu groß sind. Unglücklicherweise verschiebt sich damit der gesamte Tag, was verbunden mit dem verfügbaren Raumangebot zu einer Klienten-Berater-Raum-Stauuung führt. 

Eine weitere Kritik, die allerdings in der Natur von NROs liegt, ist die direkte Abhängigkeit von monetären Unterstützern, Spendern, Finanziers und der Möglichkeit der Arbeit an sich. Bliebe die Geldgabe aus, die Organisation könnte ihre Türen schließen. Das führt zu einer akribischen Planung und einer eher zentralistischen Entscheidungsfindung, wenn es um materielle Unterstützungen geht. Möchte ich in einer gemeinsamen Sitzung mit einem anderen Berater zusammen kommen, um eine Entscheidung herbei zu führen, so bin ich vollständig abhängig von der zeitlichen Relativität dieses Beraters. 

Ein Beispiel: ich habe einen Termin mit einem Klienten und einem Kollegen X. Der Einfachheit halber ist der Klient pünktlich. Allerdings ist das nicht der Fall für Xs Klienten. X kann also seine zeitliche Vereinbarung mit mir und meinem Klienten nicht einhalten und wir warten. X ist schließlich bereit. Allerdings stellt sich nun heraus, dass Kollegin Y den Raum nutzt, der für unsere Sitzung vorgesehen war. Die restlichen Räume sind auch besetzt. Jetzt warten wir zu dritt. Die Sitzung kommt doch noch zu Stande. Allerdings muss ich danach meinem nächsten Klienten, der ebenfalls pünktlich war und seit seiner Ankunft wartete, leider mitteilen, dass das Büro nur noch zehn Minuten geöffnet hat und daher eine neue Sitzung mit ihm nicht mehr begonnen werden kann. 

Die Lasten auf den Schultern, sie wachsen mit jeder Verstrickung der Unpünktlichkeiten. 

Teil II Halboffizielles. 


Kleine Abhandlung zum Stromkauf und -verbrauch. 

Ich stehe von Montag bis Freitag um 5.30 Uhr auf, versuche, meinen Körper zu überreden, mit mir kleine sportliche Übungen in der Kammer zu vollführen und dusche anschließend. Als ich Ende August ankam, war noch immer der Winter zu spüren. Tageweise war der Himmel mit dunkelgrauen Wolken überzogen, es regnete, manchmal hagelte es und die Sonne hob die trübe Decke mit ihren Strahlen nicht. Das führte dazu, dass ich fror. Alle froren. Und dann, nach ein paar Tagen, zeigte sich wieder das Blau des Himmels und Helios brannte und wärmte. Während ich in den vorherigen Tagen auf die Bequemlichkeit südafrikanischer Architekten fluchte, die keinerlei isolierende Schichten in den Häusern vorsahen, wurde mir, der ich in den Strahlen der Sonne des Morgens stand, klar, warum sie, die Architekten und die Besitzer, bequem blieben. 

Der Morgen durchflutete mich mit dem schönsten aller Gefühle: dem steilen Kontrast zwischen der vorangegangenen, deprimierenden Stimmung und dem mich weckenden Schein wärmender Lebendigkeit. Verflogen waren die Trübsal und das Grau, die auf mir lasteten, ich wusste plötzlich, was ich vermisste, was der Grund meines Zitterns und Fluchens war und warum beide nötig waren, um das hier, diese Intensität wieder zu erleben. 

Warum ich das erwähne, wenn ich vom Duschen berichte? Weil die beiden Dinge unschwer miteinander verbunden sind. Das Wasser aus der Dusche kann warm sein, muss es aber nicht. Denn das Haus hat einen Warmwasserspeicher und es sind die rationalen Fähigkeiten der Bewohner, ihn planvoll und effizient zu nutzen, da der Stromkonsum in direkt proportionalen Zusammenhang mit der Laufzeit dieses Speichers steht. 

Diesen Fakt bereits in den ersten Wochen erkannt, führe ich seither eine deskriptive quantitative Statistik über den Tagesverbrauch im „Haus der Träume” (bei Interesse leite ich die Tabellen und Diagramme gerne weiter). Gute Tage zeichnen sich dadurch aus, dass sich der Verbrauchswert in Kilowattstunden unter elf befindet. Schlechte Tage zeichnen sich durch alles darüber aus und besonders schlechte Tage dadurch, dass Nachlässigkeit, Vergesslichkeit oder Unüberlegtheit schalten und walten. 

Ein Exkurs. 

Was wir tun? Geplante Schaltungen vornehmen. Während uns der Winter langsam verließ, machte ich es mir zur Angewohnheit, meinen Schlaf zu unterbrechen. 3.55 Uhr hat sich dabei als eine gute Zeit erwiesen, um zum einen unsere buntgescheckte Küchenratte bei ihrer Nahrungssuche zu stören, zum anderen den geyser einzuschalten. Gegen 5.30 Uhr, wenn ich aufstehe, ist die erste meiner Handlungen, ihn wieder abzustellen. Thotho gab uns die Erläuterungen. Er erklärte, der Speicher brauche circa zwei Stunden, um das Wasser heiß werden zu lassen. Nach der Methode des systematischen Probierens fand ich heraus, dass dies zwar stimmig ist, mir das Wasser dann aber zu heiß wird und ich mit kaltem Wasser gegensteuern muss. Ineffizient. Daher sind es bei mir 90 statt 120 Minuten, die an Stromzeit in den Speicher gepumpt werden. Da ich aber nicht alleiniger Repräsentant unserer kleinen Wohngemeinschaft bin, variieren die Stromzeiten in Hinblick auf den Speicher. Außerdem variieren auch die Rhythmen unserer Warmwasserbedürfnisse. Wenn Ricarda am späten Nachmittag vom Fitnessstudio kommt, stellt sie den Speicher ein und duscht. Ich hingegen dusche regelmäßig am Morgen und Thotho, beinahe unabhängig von der Temperatur (aber natürlich ist ihm das warme Wasser auch genehmer). 

Weiteres systematisches Probieren zeigte, dass der geyser selbst über Nacht die Temperatur des Warmwassers halten kann. Bei den derzeitigen sommerlichen Außentemperaturen sogar bis zu 90% (Schätzwert). Der kommende Winter wird zeigen, wie lange dann eine Zwei-Stunden-Schicht über die Nacht vorhalten kann. Thotho gab eine verbale Vorwarnung und sagte: „You will suffer” („Ihr werdet leiden [müssen]”). 

Weitere Maßnahmen, um den Stromverbrauch zu senken: 
  • die vollständige Nutzung meines Laptop-Akkus, d.h. ich stelle den Strom nur an, wenn mein Akku eine Ladung benötigt und versuche, während des Ladens nicht parallel mit dem Gerät zu arbeiten, weil dies die Ladezeit verlängerte, 
  • die Nutzung der Restwärme der Heizplatten unseres Elektroherdes, und, wie bereits erwähnt, 
  • maximal eine Warmwasserschaltung pro Tag. 

Teil III Freizeit.  


Die wahre Freizeit. 

In meiner Freizeit bin ich werktags meistens damit beschäftigt, mich auszuruhen (und nicht, wie anzunehmen, Stromkalkulationen durchzuführen). Wie sieht dieses Ausruhen aus? Ich schreibe Postkarten, Briefe, E-Mails und Blogeinträge. Ich lese das Internet, Zeitungen, Bücher, psychoedukativen Hintergrund und organisationsinterne Berichte. Ich zeichne Architektur und Straßenkarten. Ich spiele Fußball. Ich fahre Skateboard. Ich koche mit Maismehl, Hartweizengrieß, Eiern und Eierteig, Reis, Zwiebeln, Tomaten, Möhren, Erdnussbutter, Milch, Chili, Ingwer, Paprika, Oregano, Pfeffer und Salz. Ich kaufe ein. Ich transportiere Wäsche und lasse waschen, trochnen und legen. Ich höre Musik und Hörspiele. Ich spaziere. 

Von der Gewöhnung und der Paranoia. 

Als ich mit Ricarda über diesen Bericht sprach, erinnerte sie mich an das, was ich bereits nicht mehr aktiv wahrnehme und verarbeite. Ich sehe z.B. kaum noch, dass die Häuser mit hohen Mauern und festen Zäunen umgeben sind. Ich sehe nicht einmal mehr, dass mein Fenster außen vergittert ist. 

Ich beobachte vielmehr, wie die Gärten gestaltet sind, wie Blumen kuratiert wurden (natürlich ohne zu wissen, wie sie heißen), wie aus Pflanzen die Fußwege überlagernde Barrikaden schattenspendender Schönheit geworden sind. Ich schaue auf hütende Hunde, die meist paarweise auftreten, schleichende Katzen in Gartenbeeten oder Eidechsen, die der Gravitation an Mauerwänden ein Schnippchen schlagen. 

Was ich dagegen sehr wohl wahrnehme und verarbeite, sind die Geschichten meiner Kollegen: die Überfälle, die Einbrüche, der Diebstahl. Zum Teil kann ich keine adäquate Erklärung für die Handlungen in den beschriebenen Überfällen angeben, was mich mehr entsetzt, als die Fakten an sich. Ein Beispiel: Fünf junge Männer umzirkeln einen meiner Kollegen. Einer hat eine Pistole und hält sie ihm an den Kopf. Ein anderer furchtelt mit einem langen, spitzen Messer herum, der dritte hält eine Eisenstange, und der vierte eine schwere Kette. Diese Vier sind dazu da, das Opfer in Schach zu halten, der fünfte dient, indem er die Taschen nach Wertgegenständen durchsucht. Alle sind nervös, sonst hätten sie keine Waffen mitgebracht. 

Es gibt einen Moment der Verzögerung, einen Moment, der zu lange verstreicht zwischen dem nickenden Andeuten, dass die Taschen zu leeren sind und der Hand, die nach den Taschen greift. Nummer zwei mit dem Messer ist nervöser als alle anderen. Er will das Opfer niederstrecken - es ist einfacher so -, die Klinge sticht in Richtung Bauch des Festgehaltenen und dieser, ahnend, dass das Jetzt-oder-Nie die einzig angemessene Reaktion ist, um sein Leben zu schützen, weicht, trotz des kalten Metalls an der Schläfe, mit einem Schritt zur Seite aus. Die Klinge trifft dennoch. Aber nicht den Bauch meines Kollegen. Durch den Schock des sprudelnden Blutes in Starre weiß nur der mit Eisenstange zu handeln und versucht, den Hinterkopf vom Opfer zu treffen. Er verfehlt leicht, aber nicht ganz sein Ziel. Mein Kollege presst derweil den Kopf des Mannes mit dem Messer in seine Armhöhle, nicht willens ihn gehen zu lassen, tritt mit seinen Füßen den Fünften weg, der nicht lange braucht, um zu entscheiden, fliehen zu müssen, und schlägt seinen Ellenbogen in das Gesicht desjenigen mit der Kette. 

Der Blutende flieht, die anderen folgen und selbst der, der zustach, kann sich aus dem Griff meines Kollegen befreien und rennt schließlich. 

Manchmal, wenn Ricarda und Thotho noch weg sind, wenn ich allein das Haus hüte und schließlich ins Bett gehe, dann trifft mich die sichere Paranoia. Ich schließe mich ein, ich schließe ab, doppelt, dreifach, vierfach. Das Außengitter vor der hinteren Tür verschließe ich durch das reguläre Schloss und raste, oben und unten, zwei zusätzliche Schlösser ein. Die dahinter liegende Tür: geschlossen, verrriegelt. Dass ich mein eigenes Gefängnis bastele, blende ich aus. Die Vordertür ist stets und ständig geschlossen, es gibt vielleicht tageweise Ausnahmen, aber nicht viele. Das Badfenster bleibt offen, es sei denn heftiger Regen würde gegen es schlagen, mein Fenster bleibt ebenfalls offen, aber ich habe ja das doppelte Gitter. Thotho und Ricarda schlafen in winddichten, geschlossenen Räumen.

Und dann kommen Nacht und Geräusche. 

Unser Grundstück ist Teil eines Blocks, d.h. umschlossen von vier Straßen, eingebettet in die Geradlinigkeit von Schachbrettmustern. Auf diesem Block ist eine Schule, die Observatory Primary School, die auch Eigentümer unseres Grundstücks und Hauses ist. Und dann sind da noch fünf bis sechs Nachbargrundstücke und in großer Allmählichkeit lerne ich ihre Bewohner kennen. Es gibt auch eine freie Fläche, gleich hinter unserem Grundstück, auf der ein Müllcontainer und eine Wellblechhütte stehen. Zwei Autoreifen liegen im Gras, zwei Betonringe und ein Schild, das für Baumaßnahmen wirbt. Noch vor zwei Wochen lebten Arbeiter auf diesem Feld. Vermutlich bauten sie an einem Gebäude gleich nebenan. Jetzt, da sie gegangen sind, fehlt mir nicht nur der morgendliche Ritus, den ich bei ihnen sah (die Hütte öffnen, Bäuche strecken, Wassereimer tragen), sondern auch das zusätzliche Gefühl von menschlicher Anwesenheit, die sichert, weil sie da ist. 

Mit dem Verschwinden der Arbeiter verschwand auch das inoffizielle Personal meines Wohlgefühls. Das Feld ist groß und dunkel in der Nacht, das Tor leicht zu öffnen. 

Thotho erklärte mir, dass November und Dezember die traditionellen Monate sind, in denen viel gestohlen und eingebrochen wird. Auf das Warum? folgte: Weihnachten steht vor der Tür, die Familien benötigen und brauchen und die Kinder sowieso. 

Fünf Miniaturen. 

In unserem Fußballpark standen einmal an jeder der vier Ecken der drei riesigen, terrassierten Felder Flutlichtlaternen. Als ich ankam reckten sie sich noch in die Höhe. Mittlerweile liegen sie abgeknickt neben den Feldern. 
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Seit einer Woche ist das Ostbüro ohne Telefonleitung. Ein Kabeldieb versuchte in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag sein Glück. Am nächsten Morgen fand man ihn in der Gosse, leblos und zwanzig Meter entfernt von seiner aufgestellten Leiter. Die Heftigkeit beim Kontakt mit der elektrischen Hochspannungsleitung schleuderte ihn durch die Luft. 

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Nacht. Ich wache auf und unsere häuslichen Außenflutlichter sind angestellt. Ich stehe auf und frage Thotho, der im festlich erleuchteten Wohnzimmer sitzt, das gewönlich nur vom Flimmern der Mattscheibe illuminiert wird, was geschehen ist. Er sagt, er habe draußen fremde Stimmen gehört. 

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Eine andere Nacht. Geräusche wecken mich. Ich bin mir zuerst nicht sicher, aber ich glaube, ein Schnüffeln zu hören. Als erstes denke ich an unsere Küchenratte. Aber die Geräusche sind zu laut dafür. Ich schleiche auf Zehenspitzen zum Fenster und luge hindurch. Zwei Hunde - es sind diejenigen von einem unserer Nachbarn, Angelo - durchstöbern die Beete unseres Gartens. Sie sind sehr vertieft in ihre Spurensuche und selbst mein kurzes Pfeifen stört sie nur für eine Sekunde. Nach einer Weile, augenscheinlich befriedigt, dass alles in Ordnung ist, springen sie durch das Loch in unserem Zaun. 

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Wie es mir geht? Gut. 
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2012-11-09

Spazieren I




Ob Dunkel oder hell, und damit Nacht oder Tag, bisher ist diese Stadt ein eindrücklicher Ort für den Spaziergänger in mir. Spazieren, das ist Kennenlernen, das ist Denken und Anfassen zusammen. 
Ich war (wieder einmal; siehe auch "Die Ruandische Hochzeit") auf einer ruandischen Feierlichkeit und es ging darum, eine Interessensvertretung für ruandische Flüchtlinge in Südafrika zu gründen und entsprechend freudig erregt, diese Taufe zu feiern. Zudem sollten die jeweils Anwesenden mit ihrem Eintrittsgeld zur ersten Tranche des Klubs beitragen. Ich war also Spender.
Aber ich wollte ein einsamer und abtrünniger Spender für diesen Abend sein, denn wieder begegnete mir, dass ich - allein unter dem knarzenden Blick meines ästhetischen Verständnisses - nicht einverstanden war mit der Aufmachung dieser Veranstaltung.

Der Ort: eine Schul-Mehrzweckhalle mit Bühne (von deren Betreten natürlich abgeraten wurde, weil eventuell die Dielen den jeweiligen Massen nachgeben und die jeweiligen Massen im Bühnenboden versinken könnten. Natürlich konnte mich das nicht davon abhalten, diesen interessantesten aller Orte des Gebäudes zu erkunden, ein wenig auf dem alten und völlig verwahrlosten Klavier herum zu klimpern, den mit Gewichten einst betriebenen, aber seit langem nicht mehr funktionalen Vorhang quietschend auf- und zuzuziehen und kindlich-neugierig durch die Löcher in den Dielen im darunter liegenden Trickboden etwas auszumachen).

Während ich noch ein paar Dienste erledigte (das Schneiden von Paprika und Zwiebeln für Fleischspieße und das Schleppen eines Kühlschranks durch ein Treppenhaus, damit hauptsächlich Bier und ein paar verlorene und nur der Beimischung dienliche Softdrinks kühl blieben), machte ich mir schon Gedanken darüber, wie diese sehr große Halle, und hier folgt die Analogie zu den Softdrinks im Kühlschrank, aufgefüllt wird mit vielen, vielen Menschen, die einfach nicht kommen wollten, die aber den Ort erst in etwas Lebendiges transformieren würden.

Alles deutete auf die klassiche Abschlussballszene in Schulen oder die pubertäre Jugendlichendisko hin: die Tische waren in zwei langen Reihen jeweils längs zu den Seiten angeordnet, Kunststoffstühle wurden dahinter rangiert. Das Licht der Neonleuchten flimmerte nur auf einer Seite, sechs viel zu laut eingestellte, überdrehte und übereinander gestapelte, sich nur in einer Ecke des riesigen Raums befindliche Boxen, die diesen nie hätten satt füllen können, sorgten von Beginn an für unerträgliche Verzerrungen der derzeit populären (mir unbekannten) Auswahl von Musik.

Entsprechend der Anordnung der Tische sortierten sich die spärlichen Gäste. Im Lichte: Frauen und Kinder. Im Halbschatten voriegend Männer, vielleicht auch wegen der Nähe zum abgetrennten Bereich des Ausschanks mit prallem Kühlschrank.

Vier Whiskeyflaschen konnten beinahe vollständig und mit Applaus und öffentlicher Annonce erworben werden, Biere wurden gegen Banknoten gewechselt und manchmal wurde der ein oder andere Kunststoffbecher voll mit Rotwein aus dem Tischtetrapak gefüllt.
Wer z.B. eine Flasche Whiskey erwarb, zeigte seine Gebefreude und damit sein Engagement an. Einer davon, ein FIFA-spotter, berichtete mir in einem smalltalk von seinen Eindrücken aus Düsseldorf.

Während drei Kleinkinder, der Sprache nur rudimentär fähig, nahe der Box mit dem Kabelmikrofon MC-Gesten vollführten und ungeschickt mit den Armen wackelten, lärmten andere Kinder so lange, bis einer der Tische auf den Kopf eines weiteren Kindes fiel. Draußen tobten Sturm und Gewitter, der Regen klatschte gegen die Turnhallenfenster und Wasser lief zwischen die Wände und tränkte den Boden der Eingangsbereiche. Blitze, wären sie noch frequenter aufgetreten, hätten das nicht vorhandene Stroboskoplicht ersetzen können. Trotz der in meinen Augen Lust-verhindernden Atmosphäre wurde zum Tanz geladen, bei dem dann circa fünfzehn Menschen groß-kreisartig oder in kleineren Zirkeln zur Musik Bewegungen machten und, so meine Interpretation, ihre jeweils eigene Musik zum Umgebungslärm ergänzten.

Ich versank derweil in einem Stuhl hinter dem Ausschank, trank literweise Leitungswasser (eine mich zwar ausgrenzende aber absichtlich alkoholisch-kompensatorische Leistung?) und ging von Zeit zu Zeit hinaus um die Wetterphänomene zu betrachten oder mir zu überlegen, wann es angemessen wäre, von dieser Veranstalung zu verschwinden und wie.

Als ich es schließlich nicht mehr aushielt, verabschiedete ich mich kurz, gab Laut und Bescheid und wandte mich schnellen Schrittes durch die Dunkelheit in die Richtung, die ich für die richtige hielt, um in einer Stunde zu Hause zu sein.

Meine wieder gewonnene Autonomie wurde reichlich belohnt. Entgegen aller Vorhersagen, aller Warnungen und allen Abratens, bei Nacht durch die Stadt zu laufen, geschah: nichts.
Meine eingeschlagene Richtung stimmte, ich schlug mich durch Troyeville, querte Kensington, dass ich endlich geografisch einordnen konnte, was mir zuvor partout und durch die ewige Autofahrerei nicht gelingen wollte, schnitt Observatory und stieg schließlich auf den Hügel, in dessen versenktem Tal die Regent Street und damit mein temporäres Zuhause liegt.

Unerschrocken und bestätigt durch diese Erfahrung beschloss ich, am Sonntag die Innenstadt aufzusuchen, in der ich schließlich meine seit Wochen ersehnte Zeitung ("Chimurenga Chronicle"; Link zur englischsprachigen Projektseite) und das Carlton Centre finden sollte.
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2012-10-28

Neue Zeiten.

Aufbruch und Abbruch, beides gilt. Während ich noch den Narrativen der Geflüchteten zuhöre, drehen sich in mir die Gedanken wie der Magen um. 

Das Zitat geschah mir vor ungefähr zwei Wochen, als ich auf einem Höhepunkt meiner negativen Gefühle der hiesigen Arbeitswelt gegenüber in eine Richtung trieb, die einen Abbruch andeuteten, statt konstruktive Lösungen zu suchen. Ein anderes Beispiel: 


Ich fühle mich ausgeschlossen. Ich meine das nicht passiv, sondern eher als eine sich gegenseitig bedingende Beziehung. Zum einen aus informativem Mangel. Zum anderen aus organisatorischer Sicht.Warum werden bestimmte Terminlichkeiten nicht mitgeteilt? Warum wird das Thema der Rollen und Ränge von Freiwilligen seit nunmehr Beginn meiner Tätigkeit immer wieder aufge- und ver-schoben?
Manchmal spüre ich einen drift, augenblickliche Transzendenz und Dissoziation. Die Momente, die lachend geteilt werden - ich steige aus ihnen aus bzw. erst gar nicht ein. Ich wende mich dem Innen zu, am Liebsten ohne je wieder zurück zu kehren. Aber dann erinnere ich mich neu, ganz langsam presst sich der Gedanke durch meine neuronalen Schichten: ich stehe unter einer gewissen Beachtung und Aufmerksamkeit, Blicke streifen mich, Menschen interpretieren. Und ich möchte nicht ganz aus der Reihe fallen, spüre den Gruppendruck, die Anpassungsleistung, die von mir verlangt wird.     

Mir geht es wieder besser, ich kann wieder mehr von mir vor anderen zeigen und mitteilen und das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass die Möglichkeiten zur Verbalisierung häufiger gegeben wurden.

Seit drei Wochen durchlaufe ich mit einer Gruppe ein Training, das sich "Basic Support Skills" nennt. Themen dieses jeweils vierstündigen Seminars waren bisher:

  • "Selbstwahrnehmung"; Ergebnisse: 
    • meinen Baum des Lebens gemalt, 
    • meine theoretischen Verankerungen kritisch betrachtet, 
    • meine Stil-Tiere, Dämonen?, gefunden: 
      • eine Schildkröte (zieht sich zurück, agiert defensiv, hält sich von anderen fern), 
      • einen Elefanten (erkennt Probleme als Teil des Lebens, die gelöst werden können - das müsste vielleicht noch zur Wikipedia hinzugefügt werden im Absatz über kognitive Leistungen von Elefanten), 
      • eine Giraffe (steht über allem; fühlt sich zu sehr überlegen, als dass sie Konflikte betrachtete)
      • eine Eidechse (verhält sich ruhig, um Frieden zu wahren und wird dadurch zur Fußmatte), und 
      • einen Strauß (gestresst, aber er äußert seine Konflikte nicht)

  • "Organisatorische und persönliche Werte"; Ergebnisse: 
    • mein katholisches Erbe (erneut) unter die Lupe genommen, 
    • der organisatorischen Vision i.A. zugestimmt, d.h. auch ich versuche, gemeinsam mit der Organisation, dazu beizutragen, dass eine Gesellschaft wächst, die aus emotional gesunden Individuen, Familien und Gemeinschaften besteht, die zusammen für das Allgemeinwohl sorgen können
      • im Original: "[...] seeks to contribute to the creation of a society in which the emotionally healthy individuals, families and communities are able to work together for the common good of humanity"; 

  • "Beratertechniken"; Ergebnisse: 
    • wäre ich auf einem Boot, das sänke, ich meldete mich als einer der ersten, der nicht auf die einsame Insel hinüber gerettet werden wollte; der Gedanke dahinter: was passiert schließlich auf dieser Insel? Die Maximierung des Überlebens in Menschengestalt, sie wird sich Bahn brechen und ich will an diesem Versuch nicht teilnehmen, so stark interessieren mich gruselige Realfantasien nicht;
    • neben dem aktiven Zuhören, das ich wohl einigermaßen beherrsche, kann ich auch ziemlich gut, bei großer Anstrengung, unterbrecherisch sein.
Eine andere Möglichkeiten, mein inneres Treiben zu besprechen, war eine Rückmelderunde für das Büro im Osten (es liegt in Bertrams, einem Stadtteil im Osten; das andere Büro liegt im Westen der Stadt, in Westdene), in der ich von Schwierigkeiten sprach, die ich erlebe, wenn Klienten sich hartnäckig abgesprochenen Zeiten verweigern oder wenn sich Räume nur unzureichend für beraterische Gespräche eignen, weil ständig jemand herein kommt oder nachfragt, wann der Raum  wieder frei sein wird. Letzteres ist dann auch ein Grund, warum ich mich als sehr abgehetzt in der beraterischen Situation wahrnehme, als hätte ich gar kein Ohr für das Gegenüber, nur die provisorischen Minuten, um die grundlegendsten Fragen zu stellen. Der für mich augenscheinlichste Hintergrund: die ambivalente Anforderung an mich, gleichzeitig Freiwilliger und professioneller Helfer zu sein. 

Der Freiwillige in mir drängt auf den Service für die anderen Helfer, die natürlich in der Hierarchie der Organisation über ihm stehen. Er tippt Telefonnummern für den Chef ein, holt Akten aus den Schränken, schmiert Brote und verteilt Tee, Kaffee, neuerdings auch ganze Becher voll Milch mit Zucker (wobei alles mit Zucker serviert wird; ich vermute eine sehr, sehr klassische, kleinkindhafte Konditionierung und reserviere mir das vermutlich intellektualisierend-rassistische Vorurteil, das gewisse Reifeprozesse bei Menschen, die seit ihrer Kindheit mit stark emotionalen Konflikten, Trauma und Verlust konfrontiert waren und denen es in Südafrika als Flüchtlingen nicht wirklich besser geht, weil ihre Chancen aus gewissen Abhängigkeitssystemen auszubrechen, gegen Null tendieren; nicht dazu in der Lage sind, sich von den guten Spuren und Mustern ihrer Kindheit zu distanzieren: Zucker ist eine davon). 
Dieser Freiwillige ist dem Typisierungswahn nach ein Hund: er hört darauf, was ihm gesagt wird, arbeitet ab, was auf für ihn strukurierten Listen steht, ist eifrig und aufmerksam für die basalen dienstleisterischen Dinge. 

Dann der professionelle Helfer, mit akademischem Titel, Vorerfahrungen, etc. Er ist ein sich selbst strukturierender, autonomer Charakter. Er befasst sich vornehmlich mit der Formulierung von psychotherapeutischen Gedanken, er organisiert über das Telefon das "helfende Netz", kontaktiert Sozialarbeiter, andere Helfer-Institutionen und ist voll und ganz und in Ruhe und Gelassenheit im beraterischen Kontakt. Seine Aufmerksamkeit liegt nicht auf dem Tee und auch nicht auf dem Zucker, maximal in abstrahierender Einsicht (siehe oben). Er ist aufmerksam für die interaktionalen Phänomene, nimmt sich als erstes zurück, reflektiert über die mentalen Reaktionen, die die Gegenüber in ihm erwachen lassen, agiert planerisch und niemals überstürzt. 

Und wo bin ich? In einem Durcheinander zwischen diesen Ebenen. 
Manchmal, wenn ich bestimmte Kommentare höre, die nie direkt gesprochen werden, sondern meist Andeutungen sind - "ich kann mir gut vorstellen, dass es für bestimmte Menschen schwer sein kann, sich in diese Art von Arbeitswelt zu integrieren, gerade bei eher sturen und unbiegsamen/unbeugsamen Persönlichkeiten" -, gekoppelt mit dem Unwort des Jahres 2010, der sogenannten "Alternativlosigkeit" im Sinne der Anpassung an die Situation ("entweder die Integration oder der Untergang"), bringen mich zur Frage, wie sehr ich eigentlich von der Professionalität der anderen Helfer überzeugt sein darf?! 

Denn was ist Anpassung? Für mich mindestens zweigeteilt. Zeitliche Flexibilität im Innen und Außen, und darüber hinaus eine niemals alternativlose Umgebung. 
Ein wesentliches Ziel, das ich mir für meine Arbeit jetzt schon suche, ist, raus zu gehen aus der Bürosituation. Ab dem nächsten Jahr werden neue Projekte geplant und ich darf mich als Freiwilliger (!) daran beteiligen. Also plane ich alle meine Leidenschaften zu mischen und sie mit einer Gruppe von Heranwachsenden auszuprobieren: die Stadt erkunden, die Stadt nutzen, die Stadt kennen lernen. Ob Parcour, Spaziergang mit und ohne Ziel, mein bereits privat gestartetes Fünf-Cent-Projekt (die Straßen und Bürgersteige sind voll davon) - alles deutet darauf hin, dass ich mich nicht in vier Wänden einsperre, um psychosoziale Arbeit zu leisten. 

Mit dieser Vorstellung und Realisierung kann ich wieder arbeiten und mich besser fühlen.
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2012-10-14

Die Ruandische Hochzeit.

2012-10-13

Gestern war ein Hochzeitstag. Das klingt nicht unglaublich bewegend, denn wer, ausgenommen die Kleinsten, unbewusst Teilnehmenden, oder generelle Neinsager, hat noch nie eine Hochzeit erlebt?

Meiner Erinnerung nach ist es die vierte Hochzeit, an der ich als erwachsener Gast teilnahm und, das ist das eigentlich Überraschende, diese Hochzeit war nicht anders, als die anderen. Die Prinzipien sind nun einmal gleich, vermutlich weltweit, zwei Menschen geben sich das lebensewigliche Ja-Wort und vertrauen darauf, dass irgendwie "alles gut" wird und laden zu dieser optimistischen Stimmung ein paar Gäste und Zeugen ein. 

Dass die Umstände variieren, die Tänze andere sind, die Musik einen spezifisch-kulturellen Anstrich erhält, die Organisation in jeweils anderen Händen zu einem jeweils anderen Stil führt - alles vorstell-, alles denkbar.

Noch am Freitag wusste ich nicht einmal, wann und wo diese Hochzeit sein wird, wie Braut und Bräutigam heißen (ich kenne den Namen der Braut/Frau bis heute nicht), wie ich nach Midrand komme (circa 27km nördlich von Johannesburg) oder wie ich mir den "Service" vorzustellen habe, zu dem ich eingeteilt wurde.

Samstag, im Verlauf des Morgens jedoch, gab es Aufklärung. Mit dem Fahrrad zum "Mercy House" (Link zum Hausprojekt), Warten auf den Freund mit dem Auto, [endlich, denn das wünschte ich schon lange] im überdachten bakkie-Teil (Wiki-Link) eines Jeeps unangeschnallt mitfahren und den Wind und die Blicke der anderen Fahrer auf der Schnellstraße spüren und schließlich in Midrand landen.

Wie bei allen Begegnungen, die in erster Linie fremd für mich sind, gehörte zwar der freundliche Händedruck und das Erkundigen über die jeweilige Befindlichkeit zur Begrüßung unter den verschiedenen Gästen, aber der Bräutigam übersah mich geflissentlich und war in seine Anspannung derart vertieft, dass er mich stundenlang ernsthaft ignorierte. Beim Einmarsch in den im nüchternen Weißton gehaltenen Festsaal aber wies er ein Nicken auch in meine Richtung. Später dann, in dem Moment, als ich den warmen Sekt, in vorderster Reihe allen Publikums (dies war eine meiner Dienstleistungen für den Abend) knallen ließ und in die extrapolierte Flöte goß, legte sich auch ein kurzes Lächeln in seine Mimik.

Meine ersten erkundenen Blicke über das Hochzeitsgelände aber wurden durch andere Eindrücke gespeist. Alles war hier im Entstehen begriffen, selbst Bauarbeiter in Gerüsten bastelten noch an einer Hauserweiterung, ohne wirklich zur Hochzeitsgesellschaft dazuzugehören, noch für diesen Tag fertig werden zu können. Es schien fast so, als verliefen zwei Linien parallel zueinander: sich niemals kreuzend, autonom und ewiglich. Dabei war sehr eindeutig, dass das bearbeitete Haus gleichzeitig das des Festes sein würde.

Ein großes Haus war es, mit einem erdgeschossigen Saal, der ungebunden von der oberen Etage existierte, durch Gläserfronten mit Licht gespeist. Wer auch immer später dieses Haus nutzen wollte, er hätte ein Problem mit der nicht vorhandenen Verbindung der Ebenen. Der Rest des größeren Hauses war teilweise vermietet, verkauft, oder noch im Bauzustand. Es schien, als würde nur stückweise, wohnungsweise fertig gestellt, als ob erst der Transfer des Geldes für die jeweilige Erweiterung sorgte.

In dem Teil, der bereits bewohnt wurde, erkennbar am Dauerlauf des Fernsehers und den davor Sitzenden, gab es einen Raum, der aus Fertigküche und Wohnzimmer bestand, ein Bad und zwei Schlafräume. Das Bad enthielt zwar die wesentlichen Utensilien, die einen Raum zum Bad machen, aber, wie ein beträchtlicher Teil des ganzen Gebäudes, kein Licht. Dass dies spätestens in den Dunkelstunden ab der schnellen Dämmerung des südafrikanischen Tagesverlaufs zu einigen Toilettenproblemen führen könnte, daran wurde im Voraus wenig gedacht. Es gab auch Außentoiletten, die den Gästen gewiesen wurden, aber auch diese blieben unbeleuchtet und, das schlimmere Übel, papierlos.


Das grob zusammenhängende Grundstück war ein Verbund von Grundstücken, abgetrennt von der Außenwelt durch eine Mauer, Sicherheitspersonal und fernbedientem Eingangstor.
Alles zusammen genommen erschien es mir wie eine Ferienanlage, die zu spät erdacht wurde, um noch maximalen Profit heraus zu schlagen. Eine Minigolfrunde, die diesem Begriff in keiner Weise je gerecht hätte werden können, so uneben die einzelnen Kleingolfbahnen, ihre Löcher geflutet mit abgestandenem Wasser; ein Riesenschachfeld, auf dem auf schwarzer Seite Pferd und Turm, auf weißer Seite Königin und Läufer fehlten und das seit Jahren niemand mehr angerührt hatte, indiziert durch die Schnecken, die auf den restlichen Figuren krochen und die herab gefallenen Blätter, die die Farben der Felder überdeckten; ein halbwegs funktionales Tennis- und Ballfeld, zwei faulige Teichanlagen und ein trüber, abgestandener Swimmingpool säumten die Ränder, hinzu kamen Fitnessgeräte, die im Außen standen, aber nicht dafür gemacht waren, draußen zu stehen, zwei Esel und zwei Schafe.

David Adjaye fiel mir ein, der in mono.kultur sagte: "Wenn ich irgendwo hinkomme, sehe ich mich um und frage mich: Okay, und was bedeutet das alles hier?".

Eine Antwort darauf lautete: Improvisation. Alles deutete auf die improvisierte Nutzung hin, die nötig wurde, als das fehlende Geld zu deutlich auf die Bremse der Bauphase drückte. Oder aber eine ehemals geputzte Hotelanlage, die dem Verfall irgendwann einmal preisgegeben wurde, wurde von Einzelnen wieder bewohnt, dann mit einem andersartigen Geschäftsmodell versehen und nach und nach, je nach Kontostand, wiederbelebt.
Dass nun eine Hochzeitsgesellschaft den Saal mietet und das Gelände dazu, ist eventuell zu verstehen als Einkommensquelle, als Aufstockung des finanziellen Haushalts, sodass bald wieder Königin, Pferd, Turm und Läufer ihre Züge vollführen oder die wrackartigen Autos wieder fahren oder schwimmende Nixen und lässige Poolboys den ein oder anderen Martini hinunter stürzen, Lachen und Planschen und in Bond-und Hollywood-Manier "la belle vie", das schöne Leben genießen können.

Während meiner schweifenden und probierenden Blicke wurden wohl allerhand weitere Vorbereitungen getroffen, nur sah ich davon wenig und die Zeremonie selbst war noch längst nicht angelaufen.
So wurde ich zwischenzeitlich, noch währen während eine unvollständig gestartete Schachpartie lief, eingeladen, die Midrand-Shopping-Mall zu besuchen, um dort vor-zu-essen.
Midrand und die zentrale und damit prominente Mall sind Orte, die ich nicht wieder sehen muss. Kleinstädtisches und die sich wiederholenden Geschäfte, für die Jugendlichen auf den Straßen und in den pickups die Suche nach einem Ort, irgendeinem, für die Erwachsenen das Finden der Versorgungsmaterialien in Form von Wochenend- oder Monatseinkäufen in eben dieser Mall.

Zurück beim festlichen Geschehen begann bald der offizielle Teil, Braut und Bräutigam in Aufmachung, die Braut mit der Schleppe der Unendlichkeit, dem blumenbemusterten, trägerlosen Kleid und einem Schleier, sie größer als er, nicht nur wegen ihrer weißen, offenen Stöckelschuhe, der Bräutigam mit klassischer Austatttung, dem dunkelgrauen, silbermattgestreiften Einreiher, gelber, gestreift-glänzender Krawatte, blütenweißem, sonst schlichtem Hemd und ein paar schwarzmatten Oxfords. Der einzige, mir auffallende Kleidungs-faux-pas waren die weißen Strümpfe des Herrn. Aber vielleicht galt es auch als besonders schick, diese so reinen und unschuldigen Vertreter der Fußbekleidung zu tragen.

Als der ugandische Priester begann, seine Predigt zu halten, wurde quasi-simultan in Kinyarwanda übersetzt. Er schallte laut in das Mikrofon, sodass die von den Boxen wiedergegebene Lautstärke bei Weitem das sonst Übliche Maß an Verständlichkeit überstieg und, paradox die Verständigung eher behinderte als erleichterte. Inhaltlich sprach er von der Verantwortung des Mannes, seine künftige Frau zu beschützen, sie nicht allein zu lassen undsofort. Es war ein Singsang der Floskeln, die wohl jeder gute Priester wiedergeben muss, um vor einer Hochzeitsgesellschaft zu bestehen. Dabei war alles und jeder todernst, die im Bild festgehaltene Einschwörung eine Sonderlichkeit kurz nach der dreimaligen Wiederholung der Frage, ob jemand Einspruch erhebt ob der Verbindung dieser zwei Liebenden.

Danach gab es, laut einem Gast und an mich adressiert, einen sehr typischen Einblick in das "wahre Afrika": ein Tanz wurde angekündigt und allein vokal und mit einer Trommel begleitet. Drei Männer in gelben, schwarzgepunkteten, mit Federn versehenen Röcken und ebenfalls befedertem Kopfschmuck tanzten in den Saal, der Chor der Frauen ging voran. Danach tauchten drei junge Frauen auf, allerdings mit grüner Färbung der Röcke und schlangenförmigen Bewegungen in Arm und Bein. Die stete Wiederholung des musikalischen Hintergrunds verlieh dem ganzen die nötige Trance, um allein auf die Rhythmik der Tanzenden achten zu können. Schellende Glocken an den Füßen, stampfende Gestik, synchrone Komposition. Ein wundervoller Tanz, in dem sich bald die beiden repräsentierten Geschlechter gleichzeitig zeigten und, obwohl teilweise vermischt, nie dazu tendierten, ihre eigenen Repräsentation aufzugeben.

Da ich dem Servicebereich zugeteilt war, wurde mir der Einblick in den weitaus praktischeren Teil der Veranstaltung sehr schnell klar: die Betonung in der Versorgung der Gäste lag eindeutig bei Schnaps und Whiskey, denn davon gab es viele Flaschen, dann Bier in vier Sorten (allerdings kein Lager), das definitiv zu wenig werden sollte, dann Sprudelzucker, der noch nicht einmal für die erste Runde, geschweige denn als Whiskeybeimischung genug war.

Aber das alles machte nichts, denn das Publikum war geduldig genug und bis auf die informellen Praktiken der weisen, älteren Männer, die auf ein Bier schon vor offiziellem Beginn der Speisung an die Küche kamen und ihre Vorräte begutachteten und testeten, verlief der Ausschank problemlos. Das Essen war nicht übermäßig speziell, dafür aber so reichlich, dass jeder satt wurde. Haufenweise Reis, dann Kartoffeln, Möhren und Erbsen, eine Kiste voller Hühnergebratenem à la Kentucky Fried Chicken und der süße Abschluss, die Sahne-Zucker-Hochzeitstorte. An ihr lässt sich ein wesentliches Merkmal südafrikanischer Teilsamkeit illustrieren: nicht Dreiecksstücke oder dicke Schnitte wurden gereicht, sondern kleingeschnittene Würfel. Das gleiche Prinzip der Zerkleinerung gilt nämlich auch für Käse und Mortadella, die nicht scheibenweise, sondern raspelweise verwertet werden.

Nach wenigen Stunden im Dienst war ich geschafft und bat um Rückkehr in das Johannesburger Domizil. Die Sonne hatte mir zuvor einen Stich gegeben und ich war müde und wollte schlafen. Eine schnelle Verabredung ergab sich daraufhin, ich stieg in Eile in ein Auto und hatte keine Gelegenheit mehr, dem getrauten Paar meine Ehrerbietungen zu machen, dafür aber gerade noch genug Zeit, um die Segenswünsche eines Priester zu empfangen und mit ihm eine E-Mailadresse zu tauschen.

Die Fahrt nach Johannesburg über das nächtliche Sandton und die Sicht auf den Strom alles Elektrifizierten ästhetisierten mich. Und ein erlebnisreicher Tag endete.
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2012-10-01

The Big Five oder Im Nahverkehr.


Taxidialog:
A: May I ask you a question?
B: Yes, please.
A: Is this your first time in a mini bus taxi?
B: No, it is not. But may I ask you back: why are you asking?
A: Because you are looking so tense. Relax, man!
B: I think it is part of a disposition.
A: You mean, you are an introvert?
B: Something of that kind, yes.
A: For me it is different.

Der Nahverkehr - das Gegenteil des weiten Felds, in einer so dicht organisierten Stadt wie Johannesburg. Alles muss rauschen, alles muss fahren, als gäbe es keine Sekunde, die ungefahren bleiben dürfte.
Das eigene Auto ist der Standard für den Status und die städtische Infrastruktur macht ihm geflissentlich Platz, bestätigt ihn, anstatt dem in Europa so stark malträtierten ökologischen Gewissen einzuheizen.
Das fremde Auto kommt danach und darauf schon das Taxi und vor allen Dingen, d.h. in der Frequenz am Häufigsten, in Form des Minibus-Sammeltaxis daher. Befände ich mich im Krügernationalpark statt in eGoli so entspräche das Sammeltaxi einem Mischwesen von Antilope, vielleicht auch Zebra und Rhinoceros (neologistisch Antilozebrino getauft). Zum einen, wegen der Sammeltaxi-Schwärme, die die Straßen bevölkern. Zum anderen wegen der Gefahren, die von ihnen ausgehen, wenn zu dicht bedroht und von außen heran gewagt. Im Innern ist es nicht minder gefährlich, wenngleich der schöne Schein trügen mag: denn Werkstätten sehen diese kraftvollen Gefährte der DIY-Gesellschaft nicht oft, die Ausbesserungen werden selbst vorgenommen, wobei eine funktionierende Stereoanlage und glänzende Felgen mehr Wert haben, als (kopf-)schützende Polster oder Sicherheitsgriffe (von Gurten ganz zu schweigen).
Ob ich innen schlafe, in das Telefon tippe oder Geld einsammele für die Mitfahrenden, im Hintergrund bleibt für mich stets das Risiko des Hineinfahrens in ein Straßenhindernis, sei es Blech oder Haut.
Dabei scheint die gewählte musikalische Richtung, das Genre der Fahrer, keinerlei Implikationen für den Fahrstil zu haben, obwohl ich in psychologischer Manier davon ausging: seichte 90er-Popklänge von Boygroups oder Liebesschnulzen zeichnen den sanften Fahrer aus; funky 70er-Blaxpoitation-Shaft-alikes, Kwaito-Sounds oder Housebeats lassen Raser und Draufgänger erahnen. Jedoch ist das Mitfahren immer gleich rasant, immer gleich spannend, immer mit dem Gefühl versehen, ich dürfe gar nicht die Augen auflassen, sollte meine Gebete sprechen und vertrauen.

Für diejenigen, die noch Regeln kennen: an jeder Ampel steht die Improvisation höher im Kurs als das Regelwerk. Während der deutsche Fußgänger in mir noch steht, wenn das Rot leuchtet, ziehen Massen anderer an mir vorüber, ungeachtet der Tiere der Großstadt. Lasse ich mich auf das Grün ein, so gilt nicht, das ich im Recht bin, denn die Antilozebrinos düsen um die Kurven und hupen mich beiseite, ohne von ihrem Gaspedal zu lassen, funkeln erstaunt und irritiert aus ihren Augen: was bilde ich mir ein? Vorbild zu sein für Kinder? Für Mütter? Oder für beide? Während dieser Fragen sehe ich eine Mutter mit ihrem auf dem Rücken gewickelten, schlafenden Kind im schmalen Zwischenraum von zwei Sammeltaxis verschwinden, dann wieder auftauchen, die Straße stoisch querend. Fassungslos und erleichtert, dass beide noch da sind und mit dem Gedanken im Kopf, dass diese Sekunden über Leben entscheiden, kann ich stockend und rückversichernd weiter gehen. Vor ungefähr zwei Wochen wurden zwei Schulkinder von einem Taxi ange- und überfahren, fällt mir noch ein.

Die Alternative zum Gewimmel des Straßengefechts: der Zug. Leuchtfeuer und Stolz der Städte, auf zwei Schienen gleitend, nur für ihn gemacht, ohne Dauer-Ampel-Stop-and-Go. Als ich die gewählte Station erreiche, am Ellis-Park-Stadion, verschließt mir Gitterwerk die Treppen. Das nahe gelegene Stadion war einmal im Jahr 2010 Spielstätte für die Weltmeisterschaft und in der Phase der Vorbereitung wurde bekanntlich sehr sehr viel an infrastrukturellen Maßnahmen ergriffen, um die Fan-Massen mobil zu halten. Dafür wurden auch Schienen verlegt, es gab sogar eine Strecke zum noch größeren FNB-Stadium nahe Soweto, an die sogenannte Soccer-City.
Aber vorbei das Jahr 2010 und vorbei die Zeit städtischen, FIFA-notwendigen Glanzes, der nur hergestellt wurde, so erscheint es mir, um zu gefallen. Dabei ist die Funktionalität städtischer formell-informeller Infrastruktur keine zwei Trassen vom Zugsystem entfernt und flächendeckend etabliert - die Antilozebrinos nähren sich an Tankstellen und Ständen und jeder kann hinzusteigen.
Wesentlich günstiger als alles, was der Verwaltungs-Verkehrssektor zur Verfügung stellt und wesentlich arbeitsschaffender dazu. Denn während drei Zugführer in einer jahrelangen Ausbildung das Fahren lernen, reiten mindestens dreißig Buschauffeure * ihre liebevoll geputzten Metalltiere und transportieren während einer Fahrt mindestens zehn Personen (Fahrer mit zwei Gästen vorne, zwei dahinter, vier dahinter, wenn der Zusatzstuhl ausgeklappt wird, sonst drei und dahinter, auf der letzten Bank wiederum vier; die Fahrt wird erst angetreten, wenn das Taxi gefüllt ist, was in der Regel sehr schnell innert drei Minuten geschieht).
Zudem wird der Zugfahrt der tsotsi-Faktor zugeschrieben, eine schmeichelhafte Umschreibung der nicht seltenen Lage, in einem Abteil allein zu sein, bis auf die finster drein blickenden jungen Männer hinter einem. Dass sie die Gelegenheit nutzen werden, den Einzelnen um übrig gebliebens Großgeld zu erleichtern, wird nachdrücklich auf den Straßen verbreitet.

Noch etwas: Minibustaxis halten auf Weisung hin, namentlich auf eine elaborierte Finger-Zeichenverständigung, die in Form von Karten oder Büchern erlernt werden kann (Links zu jeweils englischsprachigen Seiten; der erste Link führt zum Guardian, der eine pdf-Datei in grober Auflösung der Stadtgebiete und zugehörigen Zeichen bereit stellt; der zweite Link führt zu einem Büchlein mit Handzeichenillustrationen von Susan Woolf. Am Ende der dortigen Buchvorstellung gibt es einen Link zu einer JPEG-Datei, die bunte Briefmarken mit einigen Handzeichen zeigt).

* eigene Schätzung, keine quantitative Gewissheit
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2012-09-23

The Wilds. Oder die leere Natur in der Stadt.


Heute ist Sonntag und morgen heritage day - ein Feiertag, der das kulturelle Erbe des Landes in all seiner Vielfalt betont (Link zu englischsprachigem Bericht über den Feiertag 2008 und Bischof Tutus Tun und Sprechen) und somit gleichbedeutend mit freien statt bürogebundenen Stunden. Anstatt heute nur auf einem Hocker zu sitzen, der mir sonst und hauptsächlich Domizil ist, und aus dem Fenster/auf den Bildschirm/auf den Text zu starren, bewegte ich mich. Die aktivierende Geister riefen oder der blaue Himmel, der Sonnenschein, der Frühling; kurz: die Grillen.

Am Morgen sollte ich Fußball spielen, eine der Routinen und Ressourcen, denen ich mich hier hingebe. Routine, weil das Spiel schon seit Wochen verfestigt ist. Dienstagnachmittag und Sonntag-in-Himmelherrgotts-Frühe werde Beine geschwungen, Tänze aufgeführt, Bälle geschlagen. Ich wurde aufgenommen in eine Mannschaft, die aus Thoto, meinem Mitbewohner, und seinen Freunden aus dem Kongo (DRC) und Ruanda besteht.
Ressource deshalb, weil ich mich ausdehne, Menschen kennen lerne, ein paar wurzelnde Schlingen auf den Boden setze und diese sich zu verfestigen beginnen. Das gibt mir Kraft und Verbindung.
Leider fiel das Training aus. Stattdessen also übte ich mich in dem Heraufrennen der hiesigen Steilstraßen (dreimalige Wiederholung mit anschließenden Liegestütz), vorbei an Golfanlagen, stierenden Golfern, Yeoville-Religiösen (auffällig durch ihr Erscheinen in sehr sauberem Weiß, gewandartig; manchmal auch in Männergruppen mit grünem Einschlag und Trommeln) und den üblichen halbautomatischen, fahrenden Metallkästen, die als Statussymbol fungieren und somit der Größe nach sortiert werden. Gestern erzählte mir Ricarda, dass sie von speziellen Waschanlagen gelesen hätte, an denen man sein Auto auch mit verschiedenen Spritztönen versehen könne, die, der Farbe nach zuordbar, jeweilige südafrikanische Steppensande repräsentierten. Der gewünschte Effekt? Jemandem vorzuspielen, in einem bestimmten Landesteil gewesen zu sein, ohne den Weg gemacht zu haben.

Nach dem Gerenne war es mir noch nicht genug. Ich wollte mehr entdecken, ein bisschen weiter austesten, was in Joburg an Sonntagen geschieht. Und so spazierte ich mit klarem Ziel. Da es anscheinend keine so strengen Ladenöffnungszeiten gibt, sind auch an Sonn- und Feiertag alle Geschäfte offen. Ob ich ein Brot kaufen will, Schuhe, dagga (Gras, Cannabis, etc.) an der Straßenecke: alles ist möglich. Die spazas, kleine Überallläden, in jeder Straße mindestens einer, sind offen, die Kombination aus Wäscherei und Haarsalon ebenso und Leute pflegen ausgiebig ihre heißgeliebten Autos. Wobei Letzteres nicht sonntagstypisch ist, denn das macht man hier eigentlich jeden Tag.

Mein Ziel war ein Einkaufsparadies (englisch: mall). Ja, ich weiß, malls, das sind die Konsumagglomerationen US-amerikanischen Stils, die nur dazu da sind, die Vereinheitlichung der Welt voranzutreiben. Ich muss sie ja nicht mögen, aber sie beinhalten partiell Dinge, die mich interessieren. So heute ein Buchladen, der auf der Liste der Verkäufer des CHIMURENGA CHRONIC (Link zur offiziellen Projektseite) steht (dies eine fiktive Zeitung aus dem Jahr 2008).

Dass ich dort ankam und auch fand, wonach ich suchte, dann doch ablehnte, weil preislich etwas angehoben, das ist eigentlich nicht so wichtig.
Viel wesentlicher war mein Spaziergang, denn ich ging durch die sogenannten WILDS.
Das obige Foto zeigt einen Ausschnitt aus diesem "Stadtpark", der aus zwei Hügeln und einem Tal besteht. Im Prinzip war es Zufall, dass ich dort landete. Meine vorher geplante Route verließ ich ungefähr nach der zweiten Ecke, unwissend natürlich. Und dann, ja dann passierte das, was sehr häufig bei Spaziergangsimprovisationen auftaucht: das Unerwartete. In meinem Fall querte ich den Kamm eines Hügels, lief eine gewundene Straße halb hinunter, sah einen Mann mit drei Kindern durch eine Öffnung in der Steinmauer gehen, folgte ihnen, weil sie mir genug Sicherheit versprachen, überholte sie und befand mich in einem der vielen Grünanlagen der Stadt. Und sie war leer.

Über die Gründe, warum die öffentlichen Erholungsgebiete der Stadt so wenig genutzt werden, muss ich nicht viele Worte verlieren. Besser ich verliere gar keine. Aber dass sie leer sind, dass verwaiste, grüne Metallbänke auf Besucher warten, die nicht erscheinen, dass Namensschilder an Bäumen nicht gelesen werden, obwohl sie die südafrikanische Flora kundig bezeichnen, dass Blicke auf die Täler der Stadt ausbleiben - mit ihren Apartmenthäusern, aufstockbaren Platten, Lichtern, der Spiegelung der Sonne von gleißenden Autoscheiben auf den drives und avenues und roads und streets, das verschlug mir heute den Atem. Herr Spinell fiel mir ein, ein Protagonist aus Thomas Manns Tristan, denn er rief repetitiv, wenn er "in ästhetischen Zustand verfiel": "Wie schön! Gott sehen Sie, wie schön!" (Link zum Gutenberg-Projekt mit dem Originatext der Novelle). Mein ästhetischer Zustand war nicht nur dem Blick geschuldet. Und schon gar nicht dem Blick auf den schlammigen Teich, den verschiedenste Kulturgüter bzw. Überreste der Stadtkultur zierten. Es war das Gefühl!, es war das Spüren der Einmaligkeit dieses gehenden Daseins, des manuellen Erkundens, mit meinem Körper, der Steinplatten bestieg, stakende staksende Vögel sah, ihre Rufe hörte, das trockene Gras roch. Ich bedauerte die Gefangenen der Angst und fühlte pseudo-freiheitliches Gehabe durch die Herabsetzung der anderen.

Auch wenn ich mir jetzt, geläutert am Abend, die Illusion der Einzigartigkeit wegnehme: die Erinnerung an diesen intensiven Moment bleibt haften. Und ich verspreche mir, sie wieder einzulösen, mit all der künstlichen Naivität, die ich im Stande bin zu (re-)produzieren.
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2012-09-15

Das ist unser Haus.

"In einer Stadt, für die Fragen der Zugehörigkeit eine große Rolle spielen und in der Bewegungen und Operationen unsicher sind, gibt es ein gesteigertes Bedürfnis, Räume zu identifizieren, in denen man unter sicheren Bedingungen wohnen kann." Afropolis.

Damit auch alle, die mir schreiben wollen, eine bessere als die Büroadresse im hoffentlich korrekten Format finden:

Michael Feuerherd
154 Regent Street
Johannesburg 2187
South Africa

Ab heute auch mit Digitalversorgung.
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2012-09-10

Help. (Hilfe)

(The above picture courtesy of SCPS)

2012-09-05

"Für Neil Alcock mußte ein Entwicklungshelfer wie ein Afrikaner unter Afrikanern leben, bis er die Afrikaner verstand, ihre Probleme zu den seinen werden und er ihr Leid teilte.", Rian Malan, My Traitor's Heart.

Heute besuchte ich ein squatter camp. Das klingt einfach und erstaunlicherweise war es das irgendwie auch.

Abbe und Beatrice sind für diese Besuche in der community verantwortlich, sie schauen zweiwöchentlich vorbei, fragen die Menschen, wie es ihnen geht, versuchen, bei Erledigungen zu helfen, erkundigen sich nach den zerrissenen Familien, den kleinen Jungen, die nicht mehr in die Schule gehen, weil ihnen zu kalt ist, sie Hunger haben oder einfach nur müde sind. Oder bei den HIV-positiven Frauen, die depressiv sind und kaum für sich selbst und schon gar nicht für Kinder sorgen können.
Sie suchen junge Mütter, die ihre Kinder nicht mehr haben wollen, die selbst die Milch ihrer Kinder verkaufen, weil sie selbst nichts besitzen und das Nichts nicht teilen können.
Sie kehren bei den Alten ein, die die Aufgaben ihrer Kinder übernehmen mussten, weil diese an AIDS oder sonstwas gestorben und deren Kinder übrig geblieben sind.
Sie besprechen mit den Menschen, dass es notwenig ist, nach einer Vergewaltigung (oder zärtlicher: eines Missbrauchs) eines Familienmitglieds durch ein anderes Familienmitglied zur Polizei und vor allen Dingen zum Arzt zu gehen. Die Polizei für das Recht vor weiteren Übergriffen, die Ärzte für den Schutz vor HIV oder Schwangerschaft.

Was ist ein squatter camp sonst?
Eine Ansammlung von vielen Blechhütten, die so wacklig dastehen, dass jeder stärkere Wind ihnen die Dächer raubt. Eine Ansammlung von Menschen, die in diesen Büdchen wohnen, weil sie sich nichts anderes erlauben können.
Ein zufälliges Areal, das irgendwie geschnitten ist und an jeder idealisierten Seite einen von der Regierung installierten Kaltwasserhahn und an nur einer Seite völlig verwüstete, türlose, beinahe unbetretbar gewordene Plumpsklos hat, die nur deshalb an dieser einer Seite stehen, weil sonst immer irgendein Wind den Gestank der Fäkalien in eine Hütte triebe.
Irgendwann hat die Regierung auch diese aufgestellt, so wie die Wasserhähne, da waren sie neu. Und wenn jeder Bewohner des camps nur rechtzeitig mit einem Türschloss dagestanden hätte, um sich seine eigne Toilette zu sichern, dann sähen diese Auspuff-Dixies vielleicht so aus, als kümmerten sich Bewohner um so etwas wie Mindesthygiene.
Leider hatten sie damals keine Schlösser und so verkamen die Toiletten alle; sie, die dazu erdacht waren, den Menschen ein bisschen Würde wiederzugeben.
Mittlerweile trauen sich nur einige der Erwachsenen, auf ihnen Geschäfte zu verrichten. Die Kinder haben es von Anfang an aufgegeben und verbreiten sich und ihre Bedürfnisse auf dem sogenannten Randstreifen der Straße, der irgendwann einmal ein Gehweg war.

Auf der Grundfläche der Hütten - in den Hütten -, die weniger Quadratmeter haben als mein jetziges Zimmer hat, türmen sich alle möglichen und unnmöglichen Gegenstände und dazu meist mehr als drei Personen. Unter den möglichen Dingen sind ziemlich funktional wirkende Küchen mit Benzin- oder Gas- oder Parafinkochern, ein großes Bett oder mehrere, zusammen gestellte Klappsofas, viele Decken, die wärmen und der Hauptaufenthaltsort der in den Hütten Lebenden sind.
Unter den Unmöglichen Dingen sind Fernseher und anderes Elektrogerät, abgestaubt von irgendwo, dazu gedacht, die Hoffnung zu nähren, dass irgendwann einmal, in der Zukunft, die sich nur auf den nächsten Tag beziehen kann, Elektrizität in die Hütten kommen wird.

Das traurige Bild, das ich zu zeichnen im Stande bin, ist nicht allerorten gleich. Es gibt andere Hütten. Hütten mit Schönheit und Hygiene und Verantwortung. Mit funktionierenden Familien, sogar mit freundlichen und helfenden Nachbarn, mit Musik, mit spielenden Kindern, mit heißen Feuern und Wassern, mit sich sorgenden Müttern, die ihre Medikamten einnehmen und regelmäßig zu Ärzten gehen. Mit einer Gemeinschaft, die miteinander teilt statt behält.

Ein squatter camp meint Vielfalt und nicht Monotonie, niemals Stillstand und viel Improvisation: alte Wahlplakate der Demokratischen Allianz, die nirgendwo mit mehr Ironie oder gar Sarkasmus hätten aufgestellt oder integriert werden können ("Wir sorgen uns um alle!"), sind Wandelemente geworden, die den nötigsten Schutz vor Wind und Regen bieten.

Zurück zum Anfang. Warum war es also einfach oder einfacher als erwartet, dort zu sein? Weil ich nichts verstand, wenn die Menschen auf Zulu erzählten? Weil ich es gewohnt bin, den Schwelrauch der Feuer zu inhalieren? Weil ich gar nicht so anders wohne? Weil ich mir vorstellen kann, in einer solchen Hütte zu wohnen? Auszusteigen? Etwas anders zu machen? Weil ich schon alles über squatter camps gelesen habe und weiß? Die vielleicht ehrlichste Antwort: weil ich wieder gehen konnte. Alles andere: westliche Arroganz!

PS Ein Hohelied sei gesungen auf das Ehepaar Creina und Neil Alcock, das alles versuchte und gab und als lohnende Konsequenz vielleicht nicht ganz scheiterte.
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2012-09-01

Inseln.



2012-08-25

Ich befinde mich bei London, Heathrow, um genau zu sein, bekanntester Flughafen des britischen Königreiches, Terminal fünf, Abflughalle B. Gerade noch konnte ich den anderen Südafrika-freiwilligen 'adios' sagen und in Abflughalle C Abschied winken. Denn ich werde nicht mit ihnen zusammen fliegen, sondern einzeln (die Separation erfolgte nicht durch meine Intervention).
Mein Transfer von C nach B zurück war ein Abenteuer in die unteren Gedärme eines sehr großen Flughafens. Zur Größe lässt sich ergänzen, dass, wer das schnöde Tegel oder das alte Schönefeld kennt, vor Ehrfurcht wie paralysiert vor Heathrow stehen muss; und ich möchte eigentlich nicht alsbald derjenige sein, der angesichts vom Chicagoer Flughafen mehrere Hüte zieht, da dieser laut der Erzählung ein noch größeres Areal hat mit Terminals, die nur einer Fluggesellschaft gehören.
Zurück zu den unteren Ebenen eines Großflughafens. Als ich die freundliche Frau vom Service nach einem Rückweg fragte, wies sie mich an, den Fußweg zu nutzen, statt die sonst übliche Schnellbahn zu nehmen, da ich ansonsten erneut in die Sicherheitskontrolle geriete, die ich aber schon zuvor passiert hatte.
So fuhr ich mit ausschweifend langer Rolltreppe in die Tiefe und folgte einem Notausgangszeichen, unter dem eine automatische Tür sich gleitend öffnete. Erst zögerlich, dann forschen Schrittes ging ich durch sie hindurch und stand auf einmal in einem Gang, der seltsam düster, durch Schwarzlicht und sanfte orangene Leuchten illuminiert war.
Niemand war darin außer ich. Und die Tür schloss sich hinter mir. Fern vom Lärm der Ansagen, vom steten Rauschen der Flughallen, der Reinigungsvehikel, der Angestellten, die so dringend das unglaublich günstige Parfüm an Mann und Frau bringen müssen, vorbei das Geräusch tapsender Schritte, nur das leichte Flüstern der Belüftungen und das kaum hörbare Klickern der Datenkabeldioden.
Ich fand: die Einsamkeit eines Flughafens, eines reinen Funktionsbaus, die vermutlich nur denjenigen zuteil wird, die in der Nacht hier ihre Runden drehen.
Natürlich wurde ich überwacht, das aber dezent durch 360-Grad-Kameras, die im Abstand von 15 Metern die Decke zierten.
Erst nachdem ich bereits einen großen Teil des Fußwegs hinter mich gebracht hatte, begegnete ich Mensch-Maschinen. In einem piepsenden Elektroauto, mit dessen Geschwindigkeit ich leicht Schritt halten konnte, saßen zwei Personen, die transportiert werden mussten und ein Transporteur, der nicht mehr leisten musste, als anwesend und wach zu sein.
Und erst kurz vor der zweiten Schleuse lief mir Sicherheitspersonal vor die Füße, ließ mich aber in Ruhe, da ich bis auf geringes und fasziniertes Schauen keinerlei Anstalten machte, Feuerlöscher auszuprobieren oder verbotene Türen aufzumachen. Trotz meiner Gehorsamkeit fand meine Fantasie Wege, die Hintergründe dieser Türen zu illustrieren. Assoziationen zu Alice im Wunderland wurden laut.
Der Gang allein war still. Und auch die Gerüche einzigartig und unerwartet. Die Reinigungsmittel des Laminats waren wahrzunehmen, darüber die Düfte warmer Elektronik, Kabelschächten, Belüftungsanlagen.
Das Alleinsein, die Stille, die Gerüche, das Geheimnisvolle, alles zusammen umsorgte mich wohlig mit Eindruck und Anreiz. Katakomben, Gedärme, Schläuche, utopisches Innen von Raumschiffen.

2012-08-30

Mein erster Sonntag in Jozi. Nach geglücktem Flug, korrekt etikettierten und bis hierhin durchgekoppelten Gepäck, entkomme ich dem Hafen und schiffe mich sogleich wieder ein in das Meer der Motorisierung. Willkommen in Südafrika!
ORIEL fährt mich nach BEZ VALLEY in eine Insel europäischen Glaubens und der dazugehörigen Werte und in enge, gute Nachbarschaft. Der Dominikanerinnen-Konvent nimmt uns deutschsprachig und äußerst freundlich auf, versorgt uns, gibt uns Schutz durch Zaun und Garten.
In der Nacht wummern die Bässe der uns umgebenden Musikanlagen und hinaus gehe ich nur deshalb nicht, weil ich zu müde bin und meine Neugier dadurch gedämpft. Und natürlich, wie könnte ich es vergessen, weil ich mich noch nicht sicher genug fühlen kann, um die Lage abzuschätzen. So wird mir zumindest stets begegnet. [Wann werde ich wohl dazu in der Lage sein? Die Antwort auf das Verhältnis von Theorie und Praxis fällt mir ein.]

2012-08-30

Ich träumte, ich müsste zu einem Schwimmtraining. Ich war spät und die vorgegebene Zeit erreichte ich nicht mehr. Ich ging zum Trainer, die anderen, identitätslosen Schwimmer schwammen bereits im Becken, und beichtete meine Verspätung und meinen Wunsch, anfangen zu dürfen. Der Trainer wies mir die Parallelhalle zu, die sich hinter einer Tür befinde. Anfänger müssen dort hin, versicherte er mir. Ich ging, durchschritt die Tür, fand aber kein Schwimmbecken, stattdessen eine Art Lagerraum.
Ich hielt inne und wusste damit nichts anzufangen. Erst nach einer kurzen Weile stellte ich die tropische Wärme und Feuchte des Raumes fest, und dann, dass ich nicht allein war.
Frösche. Frösche in allen Größe und Farben neigten sich vorsichtig, doch neugierig aus ihren Verstecken, um mich zu begrüßen.
Ich ließ es geschehen, denn ich bin wohlgeneigt den Wesen, die mir mit Neugier begegnen.
Sie kamen näher und näher und schließlich, als sie vor mir waren, hüpften sie auf mich, krabbelten und taperten mit ihren Füßchen von unten nach oben, ganz so, als müssten sie mich erst überqueren, um mich zu verstehen, zu akzeptieren. Auch das war für mich mit keinem Übel verbunden. Dann aber wollte ich mich bewegen und plötzlich, als wäre das Gegenteil der Bewegung eingetreten, ging gar nichts mehr, ich bewegte mich keinen Zentimeter mehr, ich war paralysiert. Ich ängstigte mich nicht, doch ich fühlte Schmerz in einem meiner Beine. Ich schaute auf meinen linken Oberschenkel, auf dem ein recht dicker, großer Frosch festsaß, aber nicht ausschaute, als hätte er verantwortlich gezeichnete für die Paralyse. Dann schaute ich auf meinen rechten Oberschenkel und dort saß ein kleiner Frosch recht fest im Sattel, klammerte sich an mein Bein, biss hinein und starrte mich an. Seitdem ich die Paralyse festgestellt hatte, wollte ich mich um jeden Preis aus ihr heraus wringen, sie abschütteln, um endlich wieder frei gehen zu können. Als ich aber den kleinen Frosch verängstigt dort sitzen sah, wurde mir klar, dass zwar er für meine Unbeweglichkeit zuständig, aber ich der eigentlich Auslöser des Ganzen war. Durch meine Ruckartigkeit, meine für ihn hektische Bewegung musste er fürchten, verletzt zu werden und krampfte sich fest, biss zu.
Erst mit dieser Erkenntnis des Träumers geschah die Katharsis: ich löste mich vom Willen zur Bewegung. Ich ließ wieder geschehen, so wie vorhin schon, als die Frösche näher kamen. Daraufhin ließ auch der kleine Frosch los und sprang ab, mich beweglich und gesund zurück lassend.
Es gibt wohl Momente, in denen das Innehalten Bewegung bedeutet. Auch für mich.     
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