2012-11-22

Drei Monate Johannesburg: Von Unpünktlichkeiten, Elektrizität und nächtlicher Paranoia.

Dieser Eintrag stellt eine verkürzte Version meines ersten Quartalsbericht dar. Allen offiziellen Spendern sollte der ganze Bericht als pdf-Datei in den nächsten Tagen vom Welthaus Bielefeld zugesandt werden.

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Seit rund drei Monaten bin ich in einer neuen städtischen Umgebung, die mir noch vor einem Jahr in vielerlei Hinsicht unbekannt war: Johannesburg, die viel beschworene Stadt des Goldes. Ich verdanke diesen Umstand meiner Neugier, meinem Willen, auszubrechen, meinem Wünschen, woanders, und, weit weg von allem Gewohnten zu sein, und natürlich denjenigen, die mir Gelegenheit dazu gaben.

Teil I Arbeit und Struktur.
(für diesen Titel danke ich Wolfgang Herrndorf) 


Sophiatown Community Psychological Services (SCPS) ist eine Nicht-Regierungs-Organisation (NRO), die in Johannesburg seit 1984 psycho-soziale, gemeinschafts-basierte Intervention kostenfrei anbietet. Seit dieser Zeit ist viel in Südafrika geschehen: das Ende der Apartheid, die demokratische Ära des African National Congress (ANC), die Integration immenser Flüchtlingsströme aus Gesamt-Afrika und schließlich organisationsintern eine Umbennung - aus ehemals Reginald Orsmond Counselling Services (ROCS) wurde SCPS.

Aufgeteiltes Johannesburg. 

SCPS arbeitet an zwei Stellen in Johannesburg: im Westen, in Westdene, nahe dem ursprünglichen Sophiatown-Bezirk, und im Osten, in Bertrams, einem Bezirk, der enger mit dem Zentrum der Stadt verbunden ist.

Der Fokus der Arbeits des West-Büros liegt auf Soweto. In den South Western Townships Noordgesig, Orlando East und Orlando West, Pennyville und den squatter camps (Wellblech- und Pappverschläge bilden Häuser und diese füllen ehemalige Gewerbefelder o.Ä.) von Zamimphilo und Slovo Park (siehe auch: informalcity.co.za) vollbringen Sozialarbeiter und community worker betreuende psycho-soziale und -edukative Arbeit (siehe auch: Help. (Hilfe); Blog-Eintrag). Dabei spielen sowohl Kinder und Jugendliche in den Schulen als auch ganze Familien eine Rolle. Die Idee des Gemeinwesens prägt die alltägliche Arbeit der gesamten Organisation. Zwar wird individuelle Psychotherapie angeboten - mit terminlicher Vereinbarung, 50-Minuten-Gespräch und Hausaufgaben -, aber die Vision der Organisation sieht vor, gemeindeorientiert zu arbeiten und damit ein Stück Gesellschaft zu verbessern (siehe auch: Neue Zeiten; Blog-Eintrag).

Das Ost-Büro fokussiert derweil auf die nahe Umgebung: Bertrams ist ein Stadtteil, in dem viele Flüchtlinge aus der Demokratischen Republik Kongo (DRC) leben. Es ist außerdem ein Stadtteil, der in den xenophoben Unruhen 2008 eine wesentliche, wenngleich unrühmliche Prominenz erlangte. Bertrams und das nebenan liegende Troyeville waren Leuchtfeuer der fremdenfeindlichen Übergriffe. Flüchtlinge mussten sich in Polizeistationen und Schulen verschanzen, um nicht vom wütenden Mob umgebracht zu werden.

Die Organisation SCPS diente in dieser Zeit ebenfalls als Schutzraum - ein Engagement, das sich heute immer noch in der Bekanntheit der Adresse unter Johannesburger Neuankömmlingen und der Flüchtlingspopulation niederschlägt.

Koinonia. 

Als ich ankam, lebte ich für eine Übergangszeit von vier Tagen in Koinonia (siehe auch: Inseln; Blog-Eintrag). „Koinonia” ist griechich griechisch und bedeutet „Gemeinschaft durch Teilhabe”. Es ist ein Konvent der Dominikanerinnen, die mich und alle anderen Freiwilligen sehr herzlich aufnahmen und versorgten. Beinahe täglich radele ich am Konvent auf meinem Weg zur Arbeit vorbei und grüße still die Schwestern, bei denen ich leider seit unserem kurzem kurzen Besuch nicht mehr geklingelt habe. 

Nach dieser initialen und ersten Transition und der Auflösung der Gruppe der Freiwilligen, die spätestens am dritten Tag nach Ankunft in ihre jeweiligen, landesweiten Projekte entsandt wurden, konnten Ricarda und ich (wir sind die Freiwilligen für Johannesburg) ins sogenannte „Haus der Träume” einziehen (siehe auch: Das ist unser Haus; Blog-Eintrag). 

Unser Kollege und Mitbewohner Thotho erwartete uns schon und wir waren zufrieden, endlich an den Ort zu gelangen, an dem wir nicht nur auspacken und ankommen konnten, sondern der auch für die nächsten zwölf Monate unser temporäres Zuhause sein würde.

Thotho. 

Thotho wurde übrigens in Ruanda geboren und flüchtete, wie so viele andere, wegen des Kriegs aus Zentralafrika nach Südafrika. Er spricht Kinyarwanda, Französisch, Kiswahili, Englisch und versteht ziemlich viele südafrikanische Sprachen, darunter die beiden bedeutendsten: Zulu und Xhosa. In den SCPS ist er Übersetzer, Berater und community worker in einem und somit ziemlich unersetzlich. Seine Qualifikationen werden allein dadurch übertroffen, dass er ein herzensguter, liebe- und humorvoller Mensch ist. Seine Fähigkeiten, beispielsweise mit Kindern umzugehen, sind für mich steter Maßstab, einer adäquaten kindlichen Sprache, der Verbindung von Spiel und Ernst, die erst Vertrauen ermöglicht. Ich bewundere sehr, was er tut und spricht. Zudem brachte er Ricarda und mir bei, wie pap gekocht wird (ein Grundnahrungsmitel aus Maismehl, das auch bekannt ist als ugali in Ostafrika).

Passungen und Projekte. 

Wie passe ich als Freiwilliger in die Organisation? Wie passe ich als Psychologe in die Organisation? Wie passe ich als freiwilliger Psychologe in die Organisation? 

Von Beginn an wurde eine Unterscheidung von Ricarda und mir vorgenommen, die darin resultierte, dass unsere Aufgaben verschiedenartig sind. Meine psychologische Vorbildung wollte ich keinem verhehlen und so wurde ich nach wenigen Tagen schon mit anderen Aufgaben versehen, als Ricarda. 

Neben den wöchentlichen Klienten, die ich derzeit regelmäßig sehe (eine 18-jährige Frau und ein 11-jähriger Junge), den screenings bzw. Vorgesprächen (sie dienen dem Abklären des Anlasses zur Beratung und den Mitteln der Intervention), gibt es ein Projekt, das ich mitverantworte. Es nennt sich beautiful world und wird finanziert von einer kanadischen Stiftung (beautifulworldcanada.org), die als Statut angibt, weltweit Kindern und Jugendlichen eine gezielte Bildungsförderung zukommen lassen zu wollen. 

Während diese Stiftung die monetären Angelegenheiten übernimmt, so ist sie doch nicht dazu im Stande, in den jeweiligen Ländern und Städten die konkrete Förderung durchzuführen. Dazu benötigt sie etablierte Partner, denn Geld irgendwo auszuschütten oder gar einfach an jemanden zu überweisen, ist mitunter so sinnvoll, wie Wiesen unter brennender Zenithsonne zu bewässern - Verdunstungseffekte treten auf. 

Deshalb (und wegen diverser Beziehungsverflechtungen) wurden die SCPS gefragt, ob sie eine Art Pilotstudie durchführen wolle, in der zehn Kinder und Jugendliche gezielt gefördert werden. Die Organisation sagte ja, die Mitarbeiter wurden nach motivierten Klienten gefragt, das bürokratische Prozedere lief an und mittlerweile gibt es neun Schüler, deren schulische und weitere Ausbildung durch die beautiful world Finanzierung unterstützt wird. 

Wieder spielen beide Büros zusammen: auf der Westseite werden drei Lerner betreut, auf der Ostseite die restlichen sechs. Ob Schulwechsel, Schuluniform, Schul- und Büchergeld, Bibliotheksanmeldung, Universitätsgebühren, Transportkosten, Studienunterkunft oder Karriereplanung und Nachhilfe - die jungen Lernenden können sich an uns wenden, um materielle und sozial-edukative Unterstützung einzufordern. Demgegenüber verlangen wir einen regelmäßigen und zuverlässigen Kontakt, eine hohe Motivation und die Zusicherung der Erziehungsverantwortlichen, in gleicher Weise unterstützend zu sein, sodass die schulischen Leistungen verbessert werden können (Einschlusskriterium für die Kinder und Jugendlichen war nicht, ihr aktueller Leistungsstand oder ihr intellektuelles Vermögen). 

Meine Rolle ist die eines Koordinators. Ich telefoniere, um Verabredungen zu vereinbaren, treffe mich mit den Lernenden und deren Eltern, um Unterstützung einzufordern, mache Hausbesuche, um die jeweilige Lernsituation besser zu erfassen, gehe zu Universtitäten und Colleges, um deren Qualität besser beurteilen zu können, da das alleinige Ansehen von Internetseiten meist nicht hinreichend ist. 

Manchmal sind kleine, aber wesentliche Dinge zu tun: eine junge Frau benötigt einen Augentest und sehr wahrscheinlich eine Brille. Die Erkenntnis kam, als wir vor einem Computer saßen und sie den Bildschirm beinahe mit ihrer Nase berührte.

Frustrationen der Arbeit, Spitzen des Alltags. 

Der Titel einer Ausgabe einer deutschen Popwirtschaftszeitung wurde im Jahr 2010 geziert durch einen Mann, der ein T-Shirt mit folgendem Satz trug: „If I ran the world, I would make work more flexible” („Könnte ich auf der Welt [etwas] bestimmen, ich definierte Arbeit flexibler”). 

Ich schließe mich dem Satz an. Was stört? Mich stört, dass ich in einer Organisation arbeite, die simultan eine biegsame bis spontane Tagesplanung verlangt und gleichzeitig in ihren Arbeitszeiten und -orten so unflexibel ist wie ich es nur aus bürokratischen Strukturen kenne, die den Dienst nach Vorschrift geradezu verlangen. Von acht Uhr am Morgen bis 16 Uhr am Nachmittag besteht eine Anwesenheitspflicht. In modernem Arbeitsdeutsch könnte ich auch Kernarbeitszeit formulieren. Mindestens in der Frühe und häufig auch am Nachmittag gibt es eine Überdehnung dieser Kernzeit. Am Morgen gilt (für Thotho, Ricarda und mich), das Büro aufzuschließen, am Nachmittag, das Büro abzuschließen. Der Nachmittag aber wird oft verlängert durch haushälterische Aufgaben, die noch vom Tage liegen geblieben sind, wie das basale Reinigen der Toiletten, das Waschen des Geschirrs und das Umparken des Organisationsautos. 

Der flexible, verlangende Teil bedeutet, keinen Raum zu haben, der fest ist. Mit der Abwesenheit eines Schreibtischs kann ich gut leben - ich präferiere ohnehin die sogenannte Schreibtischteilung. Aber das ständige Verscheuchen von Raum A in Raum B, weil A gerade und ganz schnell für einen Klienten benötigt wird und die anschließende Erkenntnis, dass B ebenfalls besetzt ist und nur noch der stetig unruhige Raum C übrig bleibt, das führte bei mir in den ersten Wochen zur Frage, wie psychotherapeutische, psychosoziale oder beratende Tätigkeiten eigentlich in dieser Umgebung durchführbar seien. Mir war und ist dieser Modus sehr fremd. Meine bisherigen Erfahrungen und mein erarbeiteter Wissensstand sprechen sich aus für stark strukturierte Zeiten und Räume. Die psychotherapeutische Beziehung ist geprägt durch die ungebrochene Aufmerksamkeit des Therapeuten. Der Klient oder Patient macht damit eine Erfahrung, die für ihn nicht alltäglich ist: er wird gehört. Es wird ihm aktiv zugehört. Die Urteile werden zurück gehalten, die Abgeschiedenheit und Stille signalisieren den vertrauensvollen Umgang mit seiner Sprache und seinen Gedanken. 

Was ich bisher erlebe, ist eine polarisierte Form des Gegenteils. Türen werden geöffnet, um nachzuschauen, ob Räume frei sind. Die Nebengeräusche variieren von Kindergeschrei und -spiel auf dem Flur bis hin zu ausgedehnten Gesprächen. Die geöffneten Fenster tragen Radiomusik der Autos und Wohnungsmusik der Nachbarschaft hinein. Ich habe im Kopf, dass andere auf den Raum eventuell warten und da ich nur Freiwilliger bin, ist meine Raumberechtigung, gerade wenn es um etwaige Bildungsinterventionen geht, kleiner als die der anderen Berater. Kurzum: ich fühle Ablenkung. Und enttäuschte Erwartung. Denn ich erfülle meine eigenen Ansprüche bei Weitem nicht. 

Ein Weiteres frustrierendes Etwas, das mich seit meiner Ankunft im professionellen Bereich begleitet, ist die regelmäßige Unpünktlichkeit, die beinahe jedes Planen und Organisieren torpediert. Bei gleichzeitig hoher Wertschätzung der Tugend der Zuverlässigkeit und ihrem herausragendstem Symptom, der Pünktlichkeit, ist die hier erlebte zeitliche Relativität etwas derartig Neues für mich, das ich mich jedes Mal persönlich angegriffen fühle, wenn ein Klient Stunden später eintrudelt (bei einer Gelegenheit war es sogar eine Woche). 

Ferner löst dieses Symptom weitere zeitliche Relativitäten aus: ich plane mittlerweile einen weitaus größeren Zeitraum für Gespräche ein, als notwendig, da ich in den meisten Fällen der Unpünktlichkeit davon ausgehen kann, dass der Verabredete doch noch kommt. Bisher hat sich für mich noch keine zeitliche Regel etabliert, nach der ich den einen Termin expedieren und einen anderen einhalten kann, weil die Variationen zu groß sind. Unglücklicherweise verschiebt sich damit der gesamte Tag, was verbunden mit dem verfügbaren Raumangebot zu einer Klienten-Berater-Raum-Stauuung führt. 

Eine weitere Kritik, die allerdings in der Natur von NROs liegt, ist die direkte Abhängigkeit von monetären Unterstützern, Spendern, Finanziers und der Möglichkeit der Arbeit an sich. Bliebe die Geldgabe aus, die Organisation könnte ihre Türen schließen. Das führt zu einer akribischen Planung und einer eher zentralistischen Entscheidungsfindung, wenn es um materielle Unterstützungen geht. Möchte ich in einer gemeinsamen Sitzung mit einem anderen Berater zusammen kommen, um eine Entscheidung herbei zu führen, so bin ich vollständig abhängig von der zeitlichen Relativität dieses Beraters. 

Ein Beispiel: ich habe einen Termin mit einem Klienten und einem Kollegen X. Der Einfachheit halber ist der Klient pünktlich. Allerdings ist das nicht der Fall für Xs Klienten. X kann also seine zeitliche Vereinbarung mit mir und meinem Klienten nicht einhalten und wir warten. X ist schließlich bereit. Allerdings stellt sich nun heraus, dass Kollegin Y den Raum nutzt, der für unsere Sitzung vorgesehen war. Die restlichen Räume sind auch besetzt. Jetzt warten wir zu dritt. Die Sitzung kommt doch noch zu Stande. Allerdings muss ich danach meinem nächsten Klienten, der ebenfalls pünktlich war und seit seiner Ankunft wartete, leider mitteilen, dass das Büro nur noch zehn Minuten geöffnet hat und daher eine neue Sitzung mit ihm nicht mehr begonnen werden kann. 

Die Lasten auf den Schultern, sie wachsen mit jeder Verstrickung der Unpünktlichkeiten. 

Teil II Halboffizielles. 


Kleine Abhandlung zum Stromkauf und -verbrauch. 

Ich stehe von Montag bis Freitag um 5.30 Uhr auf, versuche, meinen Körper zu überreden, mit mir kleine sportliche Übungen in der Kammer zu vollführen und dusche anschließend. Als ich Ende August ankam, war noch immer der Winter zu spüren. Tageweise war der Himmel mit dunkelgrauen Wolken überzogen, es regnete, manchmal hagelte es und die Sonne hob die trübe Decke mit ihren Strahlen nicht. Das führte dazu, dass ich fror. Alle froren. Und dann, nach ein paar Tagen, zeigte sich wieder das Blau des Himmels und Helios brannte und wärmte. Während ich in den vorherigen Tagen auf die Bequemlichkeit südafrikanischer Architekten fluchte, die keinerlei isolierende Schichten in den Häusern vorsahen, wurde mir, der ich in den Strahlen der Sonne des Morgens stand, klar, warum sie, die Architekten und die Besitzer, bequem blieben. 

Der Morgen durchflutete mich mit dem schönsten aller Gefühle: dem steilen Kontrast zwischen der vorangegangenen, deprimierenden Stimmung und dem mich weckenden Schein wärmender Lebendigkeit. Verflogen waren die Trübsal und das Grau, die auf mir lasteten, ich wusste plötzlich, was ich vermisste, was der Grund meines Zitterns und Fluchens war und warum beide nötig waren, um das hier, diese Intensität wieder zu erleben. 

Warum ich das erwähne, wenn ich vom Duschen berichte? Weil die beiden Dinge unschwer miteinander verbunden sind. Das Wasser aus der Dusche kann warm sein, muss es aber nicht. Denn das Haus hat einen Warmwasserspeicher und es sind die rationalen Fähigkeiten der Bewohner, ihn planvoll und effizient zu nutzen, da der Stromkonsum in direkt proportionalen Zusammenhang mit der Laufzeit dieses Speichers steht. 

Diesen Fakt bereits in den ersten Wochen erkannt, führe ich seither eine deskriptive quantitative Statistik über den Tagesverbrauch im „Haus der Träume” (bei Interesse leite ich die Tabellen und Diagramme gerne weiter). Gute Tage zeichnen sich dadurch aus, dass sich der Verbrauchswert in Kilowattstunden unter elf befindet. Schlechte Tage zeichnen sich durch alles darüber aus und besonders schlechte Tage dadurch, dass Nachlässigkeit, Vergesslichkeit oder Unüberlegtheit schalten und walten. 

Ein Exkurs. 

Was wir tun? Geplante Schaltungen vornehmen. Während uns der Winter langsam verließ, machte ich es mir zur Angewohnheit, meinen Schlaf zu unterbrechen. 3.55 Uhr hat sich dabei als eine gute Zeit erwiesen, um zum einen unsere buntgescheckte Küchenratte bei ihrer Nahrungssuche zu stören, zum anderen den geyser einzuschalten. Gegen 5.30 Uhr, wenn ich aufstehe, ist die erste meiner Handlungen, ihn wieder abzustellen. Thotho gab uns die Erläuterungen. Er erklärte, der Speicher brauche circa zwei Stunden, um das Wasser heiß werden zu lassen. Nach der Methode des systematischen Probierens fand ich heraus, dass dies zwar stimmig ist, mir das Wasser dann aber zu heiß wird und ich mit kaltem Wasser gegensteuern muss. Ineffizient. Daher sind es bei mir 90 statt 120 Minuten, die an Stromzeit in den Speicher gepumpt werden. Da ich aber nicht alleiniger Repräsentant unserer kleinen Wohngemeinschaft bin, variieren die Stromzeiten in Hinblick auf den Speicher. Außerdem variieren auch die Rhythmen unserer Warmwasserbedürfnisse. Wenn Ricarda am späten Nachmittag vom Fitnessstudio kommt, stellt sie den Speicher ein und duscht. Ich hingegen dusche regelmäßig am Morgen und Thotho, beinahe unabhängig von der Temperatur (aber natürlich ist ihm das warme Wasser auch genehmer). 

Weiteres systematisches Probieren zeigte, dass der geyser selbst über Nacht die Temperatur des Warmwassers halten kann. Bei den derzeitigen sommerlichen Außentemperaturen sogar bis zu 90% (Schätzwert). Der kommende Winter wird zeigen, wie lange dann eine Zwei-Stunden-Schicht über die Nacht vorhalten kann. Thotho gab eine verbale Vorwarnung und sagte: „You will suffer” („Ihr werdet leiden [müssen]”). 

Weitere Maßnahmen, um den Stromverbrauch zu senken: 
  • die vollständige Nutzung meines Laptop-Akkus, d.h. ich stelle den Strom nur an, wenn mein Akku eine Ladung benötigt und versuche, während des Ladens nicht parallel mit dem Gerät zu arbeiten, weil dies die Ladezeit verlängerte, 
  • die Nutzung der Restwärme der Heizplatten unseres Elektroherdes, und, wie bereits erwähnt, 
  • maximal eine Warmwasserschaltung pro Tag. 

Teil III Freizeit.  


Die wahre Freizeit. 

In meiner Freizeit bin ich werktags meistens damit beschäftigt, mich auszuruhen (und nicht, wie anzunehmen, Stromkalkulationen durchzuführen). Wie sieht dieses Ausruhen aus? Ich schreibe Postkarten, Briefe, E-Mails und Blogeinträge. Ich lese das Internet, Zeitungen, Bücher, psychoedukativen Hintergrund und organisationsinterne Berichte. Ich zeichne Architektur und Straßenkarten. Ich spiele Fußball. Ich fahre Skateboard. Ich koche mit Maismehl, Hartweizengrieß, Eiern und Eierteig, Reis, Zwiebeln, Tomaten, Möhren, Erdnussbutter, Milch, Chili, Ingwer, Paprika, Oregano, Pfeffer und Salz. Ich kaufe ein. Ich transportiere Wäsche und lasse waschen, trochnen und legen. Ich höre Musik und Hörspiele. Ich spaziere. 

Von der Gewöhnung und der Paranoia. 

Als ich mit Ricarda über diesen Bericht sprach, erinnerte sie mich an das, was ich bereits nicht mehr aktiv wahrnehme und verarbeite. Ich sehe z.B. kaum noch, dass die Häuser mit hohen Mauern und festen Zäunen umgeben sind. Ich sehe nicht einmal mehr, dass mein Fenster außen vergittert ist. 

Ich beobachte vielmehr, wie die Gärten gestaltet sind, wie Blumen kuratiert wurden (natürlich ohne zu wissen, wie sie heißen), wie aus Pflanzen die Fußwege überlagernde Barrikaden schattenspendender Schönheit geworden sind. Ich schaue auf hütende Hunde, die meist paarweise auftreten, schleichende Katzen in Gartenbeeten oder Eidechsen, die der Gravitation an Mauerwänden ein Schnippchen schlagen. 

Was ich dagegen sehr wohl wahrnehme und verarbeite, sind die Geschichten meiner Kollegen: die Überfälle, die Einbrüche, der Diebstahl. Zum Teil kann ich keine adäquate Erklärung für die Handlungen in den beschriebenen Überfällen angeben, was mich mehr entsetzt, als die Fakten an sich. Ein Beispiel: Fünf junge Männer umzirkeln einen meiner Kollegen. Einer hat eine Pistole und hält sie ihm an den Kopf. Ein anderer furchtelt mit einem langen, spitzen Messer herum, der dritte hält eine Eisenstange, und der vierte eine schwere Kette. Diese Vier sind dazu da, das Opfer in Schach zu halten, der fünfte dient, indem er die Taschen nach Wertgegenständen durchsucht. Alle sind nervös, sonst hätten sie keine Waffen mitgebracht. 

Es gibt einen Moment der Verzögerung, einen Moment, der zu lange verstreicht zwischen dem nickenden Andeuten, dass die Taschen zu leeren sind und der Hand, die nach den Taschen greift. Nummer zwei mit dem Messer ist nervöser als alle anderen. Er will das Opfer niederstrecken - es ist einfacher so -, die Klinge sticht in Richtung Bauch des Festgehaltenen und dieser, ahnend, dass das Jetzt-oder-Nie die einzig angemessene Reaktion ist, um sein Leben zu schützen, weicht, trotz des kalten Metalls an der Schläfe, mit einem Schritt zur Seite aus. Die Klinge trifft dennoch. Aber nicht den Bauch meines Kollegen. Durch den Schock des sprudelnden Blutes in Starre weiß nur der mit Eisenstange zu handeln und versucht, den Hinterkopf vom Opfer zu treffen. Er verfehlt leicht, aber nicht ganz sein Ziel. Mein Kollege presst derweil den Kopf des Mannes mit dem Messer in seine Armhöhle, nicht willens ihn gehen zu lassen, tritt mit seinen Füßen den Fünften weg, der nicht lange braucht, um zu entscheiden, fliehen zu müssen, und schlägt seinen Ellenbogen in das Gesicht desjenigen mit der Kette. 

Der Blutende flieht, die anderen folgen und selbst der, der zustach, kann sich aus dem Griff meines Kollegen befreien und rennt schließlich. 

Manchmal, wenn Ricarda und Thotho noch weg sind, wenn ich allein das Haus hüte und schließlich ins Bett gehe, dann trifft mich die sichere Paranoia. Ich schließe mich ein, ich schließe ab, doppelt, dreifach, vierfach. Das Außengitter vor der hinteren Tür verschließe ich durch das reguläre Schloss und raste, oben und unten, zwei zusätzliche Schlösser ein. Die dahinter liegende Tür: geschlossen, verrriegelt. Dass ich mein eigenes Gefängnis bastele, blende ich aus. Die Vordertür ist stets und ständig geschlossen, es gibt vielleicht tageweise Ausnahmen, aber nicht viele. Das Badfenster bleibt offen, es sei denn heftiger Regen würde gegen es schlagen, mein Fenster bleibt ebenfalls offen, aber ich habe ja das doppelte Gitter. Thotho und Ricarda schlafen in winddichten, geschlossenen Räumen.

Und dann kommen Nacht und Geräusche. 

Unser Grundstück ist Teil eines Blocks, d.h. umschlossen von vier Straßen, eingebettet in die Geradlinigkeit von Schachbrettmustern. Auf diesem Block ist eine Schule, die Observatory Primary School, die auch Eigentümer unseres Grundstücks und Hauses ist. Und dann sind da noch fünf bis sechs Nachbargrundstücke und in großer Allmählichkeit lerne ich ihre Bewohner kennen. Es gibt auch eine freie Fläche, gleich hinter unserem Grundstück, auf der ein Müllcontainer und eine Wellblechhütte stehen. Zwei Autoreifen liegen im Gras, zwei Betonringe und ein Schild, das für Baumaßnahmen wirbt. Noch vor zwei Wochen lebten Arbeiter auf diesem Feld. Vermutlich bauten sie an einem Gebäude gleich nebenan. Jetzt, da sie gegangen sind, fehlt mir nicht nur der morgendliche Ritus, den ich bei ihnen sah (die Hütte öffnen, Bäuche strecken, Wassereimer tragen), sondern auch das zusätzliche Gefühl von menschlicher Anwesenheit, die sichert, weil sie da ist. 

Mit dem Verschwinden der Arbeiter verschwand auch das inoffizielle Personal meines Wohlgefühls. Das Feld ist groß und dunkel in der Nacht, das Tor leicht zu öffnen. 

Thotho erklärte mir, dass November und Dezember die traditionellen Monate sind, in denen viel gestohlen und eingebrochen wird. Auf das Warum? folgte: Weihnachten steht vor der Tür, die Familien benötigen und brauchen und die Kinder sowieso. 

Fünf Miniaturen. 

In unserem Fußballpark standen einmal an jeder der vier Ecken der drei riesigen, terrassierten Felder Flutlichtlaternen. Als ich ankam reckten sie sich noch in die Höhe. Mittlerweile liegen sie abgeknickt neben den Feldern. 
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Seit einer Woche ist das Ostbüro ohne Telefonleitung. Ein Kabeldieb versuchte in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag sein Glück. Am nächsten Morgen fand man ihn in der Gosse, leblos und zwanzig Meter entfernt von seiner aufgestellten Leiter. Die Heftigkeit beim Kontakt mit der elektrischen Hochspannungsleitung schleuderte ihn durch die Luft. 

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Nacht. Ich wache auf und unsere häuslichen Außenflutlichter sind angestellt. Ich stehe auf und frage Thotho, der im festlich erleuchteten Wohnzimmer sitzt, das gewönlich nur vom Flimmern der Mattscheibe illuminiert wird, was geschehen ist. Er sagt, er habe draußen fremde Stimmen gehört. 

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Eine andere Nacht. Geräusche wecken mich. Ich bin mir zuerst nicht sicher, aber ich glaube, ein Schnüffeln zu hören. Als erstes denke ich an unsere Küchenratte. Aber die Geräusche sind zu laut dafür. Ich schleiche auf Zehenspitzen zum Fenster und luge hindurch. Zwei Hunde - es sind diejenigen von einem unserer Nachbarn, Angelo - durchstöbern die Beete unseres Gartens. Sie sind sehr vertieft in ihre Spurensuche und selbst mein kurzes Pfeifen stört sie nur für eine Sekunde. Nach einer Weile, augenscheinlich befriedigt, dass alles in Ordnung ist, springen sie durch das Loch in unserem Zaun. 

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Wie es mir geht? Gut. 
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2012-11-09

Spazieren I




Ob Dunkel oder hell, und damit Nacht oder Tag, bisher ist diese Stadt ein eindrücklicher Ort für den Spaziergänger in mir. Spazieren, das ist Kennenlernen, das ist Denken und Anfassen zusammen. 
Ich war (wieder einmal; siehe auch "Die Ruandische Hochzeit") auf einer ruandischen Feierlichkeit und es ging darum, eine Interessensvertretung für ruandische Flüchtlinge in Südafrika zu gründen und entsprechend freudig erregt, diese Taufe zu feiern. Zudem sollten die jeweils Anwesenden mit ihrem Eintrittsgeld zur ersten Tranche des Klubs beitragen. Ich war also Spender.
Aber ich wollte ein einsamer und abtrünniger Spender für diesen Abend sein, denn wieder begegnete mir, dass ich - allein unter dem knarzenden Blick meines ästhetischen Verständnisses - nicht einverstanden war mit der Aufmachung dieser Veranstaltung.

Der Ort: eine Schul-Mehrzweckhalle mit Bühne (von deren Betreten natürlich abgeraten wurde, weil eventuell die Dielen den jeweiligen Massen nachgeben und die jeweiligen Massen im Bühnenboden versinken könnten. Natürlich konnte mich das nicht davon abhalten, diesen interessantesten aller Orte des Gebäudes zu erkunden, ein wenig auf dem alten und völlig verwahrlosten Klavier herum zu klimpern, den mit Gewichten einst betriebenen, aber seit langem nicht mehr funktionalen Vorhang quietschend auf- und zuzuziehen und kindlich-neugierig durch die Löcher in den Dielen im darunter liegenden Trickboden etwas auszumachen).

Während ich noch ein paar Dienste erledigte (das Schneiden von Paprika und Zwiebeln für Fleischspieße und das Schleppen eines Kühlschranks durch ein Treppenhaus, damit hauptsächlich Bier und ein paar verlorene und nur der Beimischung dienliche Softdrinks kühl blieben), machte ich mir schon Gedanken darüber, wie diese sehr große Halle, und hier folgt die Analogie zu den Softdrinks im Kühlschrank, aufgefüllt wird mit vielen, vielen Menschen, die einfach nicht kommen wollten, die aber den Ort erst in etwas Lebendiges transformieren würden.

Alles deutete auf die klassiche Abschlussballszene in Schulen oder die pubertäre Jugendlichendisko hin: die Tische waren in zwei langen Reihen jeweils längs zu den Seiten angeordnet, Kunststoffstühle wurden dahinter rangiert. Das Licht der Neonleuchten flimmerte nur auf einer Seite, sechs viel zu laut eingestellte, überdrehte und übereinander gestapelte, sich nur in einer Ecke des riesigen Raums befindliche Boxen, die diesen nie hätten satt füllen können, sorgten von Beginn an für unerträgliche Verzerrungen der derzeit populären (mir unbekannten) Auswahl von Musik.

Entsprechend der Anordnung der Tische sortierten sich die spärlichen Gäste. Im Lichte: Frauen und Kinder. Im Halbschatten voriegend Männer, vielleicht auch wegen der Nähe zum abgetrennten Bereich des Ausschanks mit prallem Kühlschrank.

Vier Whiskeyflaschen konnten beinahe vollständig und mit Applaus und öffentlicher Annonce erworben werden, Biere wurden gegen Banknoten gewechselt und manchmal wurde der ein oder andere Kunststoffbecher voll mit Rotwein aus dem Tischtetrapak gefüllt.
Wer z.B. eine Flasche Whiskey erwarb, zeigte seine Gebefreude und damit sein Engagement an. Einer davon, ein FIFA-spotter, berichtete mir in einem smalltalk von seinen Eindrücken aus Düsseldorf.

Während drei Kleinkinder, der Sprache nur rudimentär fähig, nahe der Box mit dem Kabelmikrofon MC-Gesten vollführten und ungeschickt mit den Armen wackelten, lärmten andere Kinder so lange, bis einer der Tische auf den Kopf eines weiteren Kindes fiel. Draußen tobten Sturm und Gewitter, der Regen klatschte gegen die Turnhallenfenster und Wasser lief zwischen die Wände und tränkte den Boden der Eingangsbereiche. Blitze, wären sie noch frequenter aufgetreten, hätten das nicht vorhandene Stroboskoplicht ersetzen können. Trotz der in meinen Augen Lust-verhindernden Atmosphäre wurde zum Tanz geladen, bei dem dann circa fünfzehn Menschen groß-kreisartig oder in kleineren Zirkeln zur Musik Bewegungen machten und, so meine Interpretation, ihre jeweils eigene Musik zum Umgebungslärm ergänzten.

Ich versank derweil in einem Stuhl hinter dem Ausschank, trank literweise Leitungswasser (eine mich zwar ausgrenzende aber absichtlich alkoholisch-kompensatorische Leistung?) und ging von Zeit zu Zeit hinaus um die Wetterphänomene zu betrachten oder mir zu überlegen, wann es angemessen wäre, von dieser Veranstalung zu verschwinden und wie.

Als ich es schließlich nicht mehr aushielt, verabschiedete ich mich kurz, gab Laut und Bescheid und wandte mich schnellen Schrittes durch die Dunkelheit in die Richtung, die ich für die richtige hielt, um in einer Stunde zu Hause zu sein.

Meine wieder gewonnene Autonomie wurde reichlich belohnt. Entgegen aller Vorhersagen, aller Warnungen und allen Abratens, bei Nacht durch die Stadt zu laufen, geschah: nichts.
Meine eingeschlagene Richtung stimmte, ich schlug mich durch Troyeville, querte Kensington, dass ich endlich geografisch einordnen konnte, was mir zuvor partout und durch die ewige Autofahrerei nicht gelingen wollte, schnitt Observatory und stieg schließlich auf den Hügel, in dessen versenktem Tal die Regent Street und damit mein temporäres Zuhause liegt.

Unerschrocken und bestätigt durch diese Erfahrung beschloss ich, am Sonntag die Innenstadt aufzusuchen, in der ich schließlich meine seit Wochen ersehnte Zeitung ("Chimurenga Chronicle"; Link zur englischsprachigen Projektseite) und das Carlton Centre finden sollte.
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