2012-09-23

The Wilds. Oder die leere Natur in der Stadt.


Heute ist Sonntag und morgen heritage day - ein Feiertag, der das kulturelle Erbe des Landes in all seiner Vielfalt betont (Link zu englischsprachigem Bericht über den Feiertag 2008 und Bischof Tutus Tun und Sprechen) und somit gleichbedeutend mit freien statt bürogebundenen Stunden. Anstatt heute nur auf einem Hocker zu sitzen, der mir sonst und hauptsächlich Domizil ist, und aus dem Fenster/auf den Bildschirm/auf den Text zu starren, bewegte ich mich. Die aktivierende Geister riefen oder der blaue Himmel, der Sonnenschein, der Frühling; kurz: die Grillen.

Am Morgen sollte ich Fußball spielen, eine der Routinen und Ressourcen, denen ich mich hier hingebe. Routine, weil das Spiel schon seit Wochen verfestigt ist. Dienstagnachmittag und Sonntag-in-Himmelherrgotts-Frühe werde Beine geschwungen, Tänze aufgeführt, Bälle geschlagen. Ich wurde aufgenommen in eine Mannschaft, die aus Thoto, meinem Mitbewohner, und seinen Freunden aus dem Kongo (DRC) und Ruanda besteht.
Ressource deshalb, weil ich mich ausdehne, Menschen kennen lerne, ein paar wurzelnde Schlingen auf den Boden setze und diese sich zu verfestigen beginnen. Das gibt mir Kraft und Verbindung.
Leider fiel das Training aus. Stattdessen also übte ich mich in dem Heraufrennen der hiesigen Steilstraßen (dreimalige Wiederholung mit anschließenden Liegestütz), vorbei an Golfanlagen, stierenden Golfern, Yeoville-Religiösen (auffällig durch ihr Erscheinen in sehr sauberem Weiß, gewandartig; manchmal auch in Männergruppen mit grünem Einschlag und Trommeln) und den üblichen halbautomatischen, fahrenden Metallkästen, die als Statussymbol fungieren und somit der Größe nach sortiert werden. Gestern erzählte mir Ricarda, dass sie von speziellen Waschanlagen gelesen hätte, an denen man sein Auto auch mit verschiedenen Spritztönen versehen könne, die, der Farbe nach zuordbar, jeweilige südafrikanische Steppensande repräsentierten. Der gewünschte Effekt? Jemandem vorzuspielen, in einem bestimmten Landesteil gewesen zu sein, ohne den Weg gemacht zu haben.

Nach dem Gerenne war es mir noch nicht genug. Ich wollte mehr entdecken, ein bisschen weiter austesten, was in Joburg an Sonntagen geschieht. Und so spazierte ich mit klarem Ziel. Da es anscheinend keine so strengen Ladenöffnungszeiten gibt, sind auch an Sonn- und Feiertag alle Geschäfte offen. Ob ich ein Brot kaufen will, Schuhe, dagga (Gras, Cannabis, etc.) an der Straßenecke: alles ist möglich. Die spazas, kleine Überallläden, in jeder Straße mindestens einer, sind offen, die Kombination aus Wäscherei und Haarsalon ebenso und Leute pflegen ausgiebig ihre heißgeliebten Autos. Wobei Letzteres nicht sonntagstypisch ist, denn das macht man hier eigentlich jeden Tag.

Mein Ziel war ein Einkaufsparadies (englisch: mall). Ja, ich weiß, malls, das sind die Konsumagglomerationen US-amerikanischen Stils, die nur dazu da sind, die Vereinheitlichung der Welt voranzutreiben. Ich muss sie ja nicht mögen, aber sie beinhalten partiell Dinge, die mich interessieren. So heute ein Buchladen, der auf der Liste der Verkäufer des CHIMURENGA CHRONIC (Link zur offiziellen Projektseite) steht (dies eine fiktive Zeitung aus dem Jahr 2008).

Dass ich dort ankam und auch fand, wonach ich suchte, dann doch ablehnte, weil preislich etwas angehoben, das ist eigentlich nicht so wichtig.
Viel wesentlicher war mein Spaziergang, denn ich ging durch die sogenannten WILDS.
Das obige Foto zeigt einen Ausschnitt aus diesem "Stadtpark", der aus zwei Hügeln und einem Tal besteht. Im Prinzip war es Zufall, dass ich dort landete. Meine vorher geplante Route verließ ich ungefähr nach der zweiten Ecke, unwissend natürlich. Und dann, ja dann passierte das, was sehr häufig bei Spaziergangsimprovisationen auftaucht: das Unerwartete. In meinem Fall querte ich den Kamm eines Hügels, lief eine gewundene Straße halb hinunter, sah einen Mann mit drei Kindern durch eine Öffnung in der Steinmauer gehen, folgte ihnen, weil sie mir genug Sicherheit versprachen, überholte sie und befand mich in einem der vielen Grünanlagen der Stadt. Und sie war leer.

Über die Gründe, warum die öffentlichen Erholungsgebiete der Stadt so wenig genutzt werden, muss ich nicht viele Worte verlieren. Besser ich verliere gar keine. Aber dass sie leer sind, dass verwaiste, grüne Metallbänke auf Besucher warten, die nicht erscheinen, dass Namensschilder an Bäumen nicht gelesen werden, obwohl sie die südafrikanische Flora kundig bezeichnen, dass Blicke auf die Täler der Stadt ausbleiben - mit ihren Apartmenthäusern, aufstockbaren Platten, Lichtern, der Spiegelung der Sonne von gleißenden Autoscheiben auf den drives und avenues und roads und streets, das verschlug mir heute den Atem. Herr Spinell fiel mir ein, ein Protagonist aus Thomas Manns Tristan, denn er rief repetitiv, wenn er "in ästhetischen Zustand verfiel": "Wie schön! Gott sehen Sie, wie schön!" (Link zum Gutenberg-Projekt mit dem Originatext der Novelle). Mein ästhetischer Zustand war nicht nur dem Blick geschuldet. Und schon gar nicht dem Blick auf den schlammigen Teich, den verschiedenste Kulturgüter bzw. Überreste der Stadtkultur zierten. Es war das Gefühl!, es war das Spüren der Einmaligkeit dieses gehenden Daseins, des manuellen Erkundens, mit meinem Körper, der Steinplatten bestieg, stakende staksende Vögel sah, ihre Rufe hörte, das trockene Gras roch. Ich bedauerte die Gefangenen der Angst und fühlte pseudo-freiheitliches Gehabe durch die Herabsetzung der anderen.

Auch wenn ich mir jetzt, geläutert am Abend, die Illusion der Einzigartigkeit wegnehme: die Erinnerung an diesen intensiven Moment bleibt haften. Und ich verspreche mir, sie wieder einzulösen, mit all der künstlichen Naivität, die ich im Stande bin zu (re-)produzieren.
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