2012-11-09

Spazieren I




Ob Dunkel oder hell, und damit Nacht oder Tag, bisher ist diese Stadt ein eindrücklicher Ort für den Spaziergänger in mir. Spazieren, das ist Kennenlernen, das ist Denken und Anfassen zusammen. 
Ich war (wieder einmal; siehe auch "Die Ruandische Hochzeit") auf einer ruandischen Feierlichkeit und es ging darum, eine Interessensvertretung für ruandische Flüchtlinge in Südafrika zu gründen und entsprechend freudig erregt, diese Taufe zu feiern. Zudem sollten die jeweils Anwesenden mit ihrem Eintrittsgeld zur ersten Tranche des Klubs beitragen. Ich war also Spender.
Aber ich wollte ein einsamer und abtrünniger Spender für diesen Abend sein, denn wieder begegnete mir, dass ich - allein unter dem knarzenden Blick meines ästhetischen Verständnisses - nicht einverstanden war mit der Aufmachung dieser Veranstaltung.

Der Ort: eine Schul-Mehrzweckhalle mit Bühne (von deren Betreten natürlich abgeraten wurde, weil eventuell die Dielen den jeweiligen Massen nachgeben und die jeweiligen Massen im Bühnenboden versinken könnten. Natürlich konnte mich das nicht davon abhalten, diesen interessantesten aller Orte des Gebäudes zu erkunden, ein wenig auf dem alten und völlig verwahrlosten Klavier herum zu klimpern, den mit Gewichten einst betriebenen, aber seit langem nicht mehr funktionalen Vorhang quietschend auf- und zuzuziehen und kindlich-neugierig durch die Löcher in den Dielen im darunter liegenden Trickboden etwas auszumachen).

Während ich noch ein paar Dienste erledigte (das Schneiden von Paprika und Zwiebeln für Fleischspieße und das Schleppen eines Kühlschranks durch ein Treppenhaus, damit hauptsächlich Bier und ein paar verlorene und nur der Beimischung dienliche Softdrinks kühl blieben), machte ich mir schon Gedanken darüber, wie diese sehr große Halle, und hier folgt die Analogie zu den Softdrinks im Kühlschrank, aufgefüllt wird mit vielen, vielen Menschen, die einfach nicht kommen wollten, die aber den Ort erst in etwas Lebendiges transformieren würden.

Alles deutete auf die klassiche Abschlussballszene in Schulen oder die pubertäre Jugendlichendisko hin: die Tische waren in zwei langen Reihen jeweils längs zu den Seiten angeordnet, Kunststoffstühle wurden dahinter rangiert. Das Licht der Neonleuchten flimmerte nur auf einer Seite, sechs viel zu laut eingestellte, überdrehte und übereinander gestapelte, sich nur in einer Ecke des riesigen Raums befindliche Boxen, die diesen nie hätten satt füllen können, sorgten von Beginn an für unerträgliche Verzerrungen der derzeit populären (mir unbekannten) Auswahl von Musik.

Entsprechend der Anordnung der Tische sortierten sich die spärlichen Gäste. Im Lichte: Frauen und Kinder. Im Halbschatten voriegend Männer, vielleicht auch wegen der Nähe zum abgetrennten Bereich des Ausschanks mit prallem Kühlschrank.

Vier Whiskeyflaschen konnten beinahe vollständig und mit Applaus und öffentlicher Annonce erworben werden, Biere wurden gegen Banknoten gewechselt und manchmal wurde der ein oder andere Kunststoffbecher voll mit Rotwein aus dem Tischtetrapak gefüllt.
Wer z.B. eine Flasche Whiskey erwarb, zeigte seine Gebefreude und damit sein Engagement an. Einer davon, ein FIFA-spotter, berichtete mir in einem smalltalk von seinen Eindrücken aus Düsseldorf.

Während drei Kleinkinder, der Sprache nur rudimentär fähig, nahe der Box mit dem Kabelmikrofon MC-Gesten vollführten und ungeschickt mit den Armen wackelten, lärmten andere Kinder so lange, bis einer der Tische auf den Kopf eines weiteren Kindes fiel. Draußen tobten Sturm und Gewitter, der Regen klatschte gegen die Turnhallenfenster und Wasser lief zwischen die Wände und tränkte den Boden der Eingangsbereiche. Blitze, wären sie noch frequenter aufgetreten, hätten das nicht vorhandene Stroboskoplicht ersetzen können. Trotz der in meinen Augen Lust-verhindernden Atmosphäre wurde zum Tanz geladen, bei dem dann circa fünfzehn Menschen groß-kreisartig oder in kleineren Zirkeln zur Musik Bewegungen machten und, so meine Interpretation, ihre jeweils eigene Musik zum Umgebungslärm ergänzten.

Ich versank derweil in einem Stuhl hinter dem Ausschank, trank literweise Leitungswasser (eine mich zwar ausgrenzende aber absichtlich alkoholisch-kompensatorische Leistung?) und ging von Zeit zu Zeit hinaus um die Wetterphänomene zu betrachten oder mir zu überlegen, wann es angemessen wäre, von dieser Veranstalung zu verschwinden und wie.

Als ich es schließlich nicht mehr aushielt, verabschiedete ich mich kurz, gab Laut und Bescheid und wandte mich schnellen Schrittes durch die Dunkelheit in die Richtung, die ich für die richtige hielt, um in einer Stunde zu Hause zu sein.

Meine wieder gewonnene Autonomie wurde reichlich belohnt. Entgegen aller Vorhersagen, aller Warnungen und allen Abratens, bei Nacht durch die Stadt zu laufen, geschah: nichts.
Meine eingeschlagene Richtung stimmte, ich schlug mich durch Troyeville, querte Kensington, dass ich endlich geografisch einordnen konnte, was mir zuvor partout und durch die ewige Autofahrerei nicht gelingen wollte, schnitt Observatory und stieg schließlich auf den Hügel, in dessen versenktem Tal die Regent Street und damit mein temporäres Zuhause liegt.

Unerschrocken und bestätigt durch diese Erfahrung beschloss ich, am Sonntag die Innenstadt aufzusuchen, in der ich schließlich meine seit Wochen ersehnte Zeitung ("Chimurenga Chronicle"; Link zur englischsprachigen Projektseite) und das Carlton Centre finden sollte.
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