2012-12-01

Absage an Jahreszeitstrukturen.

Ich bin noch nicht ganz reif für diesen Gedanken, d.h. er ist noch nicht zu Ende gedacht (aber was ist das schon?). Ich begegne einer neuerlichen Veränderung, die sich aber schon über mehrere Jahre anbahnt. Es geht um strukturierende Zeiten und den Umgang mit diesen. Der Anlass zur Frage und zum Gedanken? Die Zeit bewegt sich auf das Ende des Jahres zu, aber ich bin raus aus meiner Gewöhnung, aus meinem Habitat. In meinem bisherigen Leben wurde es kalt zum Jahresende, die Menschen, darunter ich, fanden, dass es Zeit wäre, die Tierpelze aus der Mottenkiste zu holen und sich gegenseitig darüber zu informieren, wie schlecht es um den Tiger, die Luchse im Allgemeinen und einige Schlangenarten stehe. Letzteres konnte man aber nur tun, wenn man in der tropischen Ausgangs- und Eingangsbrise großer Einkaufszentren stand und den Kragen aufschlug. Der in diesen Gesprächen wichtige Türaufhalter, der gleichzeitig als Sicherheitspersonalangestellter fungierte, küsste Luftküsse an die gnädigen Hände älterer Frauen und reichte halbgefüllte Champagnergläser mit Qualitätsschaumwein darin. Überall quellten Kunststoffimitate von Nadelbäumen hervor, Kassiererinnen erkannte man daran, dass sie gezwungen wurden, rot-weiße Pudelmützen zu tragen und ihr Dauerlächeln sogar in die Pausen mitzunehmen. 

Wurde der Schritt aus den Kaufrauschpalästen dieser Welt gemacht, pfiff der Wind eisig und manchmal fiel Kaltnasses unterschiedlicher Dichte auf die lederbespannten Hände und die Designer-Frisur war sofort ruiniert, es trübte sich die gerade noch so schöne Kolonialwarenstimmung und unmäßig viele Schirme, meistens in Alltagsschwarz gehalten, spannten sich ins jeweilige Gesichtsfeld, obwohl nur fünf Schritte zum nächsten Automobil oder zur Untergrundbahn gemacht werden mussten. Die menschliche Fraktion der Weltenretter trug in den Wintermonaten Kleidung nach dem Zwiebelprinzip und verwies jeden, ob interessiert oder nicht, auf den aktuellsten Report der CCC (Link zu Inkota/Kampagne für saubere Kleidung). Hinter vorgehaltener Hand erfuhr man noch, dass einige schreckliche Fauxpas geschehen seien, wegen derer man sich nicht nur schämen, sondern auch zwingend handeln müsse. Marke X sei im Report gut weggekommen, Y allerdings überhaupt nicht, weshalb man nun unbedingt verramsche und neu kaufe: Wer hätte schon vor zwei Jahren gedacht, dass Y unter so schlechten Bedingungen arbeiten lasse. Entrüstung, Empörung, Skandalrufe und schließlich der gereckte freundliche Daumen anstelle des Händedrucks. 

Wenn all diese Zeichen auch fehlgedeutet und als Ausdrücke anderer Visionen interpretiert werden konnten, so entging dem sensiblen Betrachter nicht, dass Glühwein- und Zuckergerüche die hell geschmückten und überstrahlenden Plätze der Städte durchzogen und Kindergeschrei die anwesenden Eltern darauf aufmerksam zu machen versuchte, dass ein oder zwei Kirmesgeräte doch der Besichtigung und des Ausprobierens wert waren. Und wenn das eben nicht ging, weil das schöne Geld bereits in die Nikolaus- und Weihnachtsgeschenke geflossen war, die von charmant-betrügenden Verkaufsdamen den Vätern als wertvoll angepriesen und verkauft wurden, dann gab es eben gebrannte Mandeln als Ersatz, Zuckerwatte zur Vor-, Lebkuchenherzen als Haupt- und weißchoklierte Äpfel als Nachspeise. 

In solchen perzeptiv-überdeutlichen Momenten wurde mir meistens schlecht. Dann erinnerte ich mich, welche Besorgungen ich noch zu machen hatte und schnellte mit finsterer, gefrorener Miene zurück ins warme Flimmern ungefilterter Weihnachtlichkeit. 

Alles anders hier? Nein, das ist es nicht, prinzipiell spielt sich alles auf mich perplex zurück lassende Weise ähnlich ab, allein die Temperaturen veranlassen zu anderen Umgangsarten. Flipflops statt Stiefeletten. Knallige Shorts statt wattierten Hosen. Unterhemd statt Daunenjacke. Und doch der gleiche gierige Blick, die gleiche Einkaufszentrenverstopfung, der gleiche Kaufzwang für alle. 

Ich stehe minutenlang einfach da und fühle, bis auf mein Unverständnis, nichts. Mich geht nichts an. Die Entfremdung vielleicht. Aber die kenne ich schon. 

Ich erinnere mich, wie ich bereits zuvor die Regularitäten durchbrochen habe. Was bedeutet ein Wochenende während der Studienzeit, wenn an jedem Tag das Gleiche verlangt wird? Der Einkauf von Nahrung kann jederzeit geschehen, die Bibliothek hat 16 Stunden offen und die meisten Materialien sind allgegenwärtig und digital verfügbar. Die Bestimmung meiner eigenen Zeitlichkeit kannte keine Grenzen bis auf meine biologischen - ich lebte im Zeitwohlstand. Und ich lebe ihn noch (Link zum Editorial der bpb-Broschüre "Zeitverwendung"). Was bedeutet eine Jahreszeit, wenn es keinerlei klimatische Schwankung gibt? Was bedeutet ein künstliches, areligiös gewordenes Fest, dessen Leere nur noch mit Geschenken gefüllt werden soll? Was bedeutet der Wechsel von Jahren, wenn jederzeit die höhepunktartigen Feierlichkeiten stimuliert und erlebt werden können? 

Viel Sonne, manchmal Regen, selten das Grau der Wolken, das mir am ehesten zuspricht. 

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk bzw. Inhalt steht unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported Lizenz.

No comments:

Post a Comment