2012-05-23

Nachträge III

El Ateneo und Kaffeekultur.

Eines Tages begab es sich, dass ich im berühmten El Ateneo einen Platz fand: ein großes Haus, ein ehemaliges Theater, gegenwärtig und schon seit ein paar Jahren jedoch, ein Buchladen. So ungewöhnlich das Konzept klingen mag, so gewöhnlich und enttäuschend die Aufmachung. Ich hatte eher das Gefühl, einen Teil einer Filialwelt von innen zu betrachten. Prinzipiell eine "Touristenfalle", da in jedem Reiseführer erwähnt, konkret ein Ort, der weder vielfältige noch eine (angekündigte) unvergessliche Atmosphäre bot.
Natürlich gilt, dass ein Theater nicht unbedingt Buchhandlungen integriert (wobei auch Theater diese "Grabbeltische" vor dem Anfang eines Stücks mit Büchern decken), sodass von einer Erwähnung ausgegangen werden darf - von einer Außergewöhnlichkeit jedoch meines Dünkens nicht.
Mein Buchblick suchte Borges, fand ihn zwar, in einer ganzen Reihe nur einer Verlagsedition, aber eine internationale Auswahl fehlte. So blieb mir das obige Buch, Gesammelte Poesie.
Während ich den teuersten Café con leche in ganz Buenos Aires trank und, man glaube mir, ich probierte viele Cafés, transportierte bzw. schummelte ich zwei der gesammelten Gedichte in mein Notizbuch, die Borges selbst in Englisch publizierte. Von einem Transfer-Verlust kann also nicht ausgegangen werden.

TWO ENGLISH POEMS (TO BEATRIZ BIBILONI WEBSTER DE BULLRICH)
I
The useless dawn finds me in a deserted street corner;
I have outlived the night.
[...]

Als ich wieder die Straßen betrat, geblendet zwischen dem Kontrast von sanfter Dämmerung des Innens und mich erhitzender Sonne des Außens, fand ich Ruhe und Abkühlung unter wild-verworrenen Bäumen, in einem Park, nahe dem Friedhof von La Recoleta.
Unter ihnen sitzend, fiel mir ein, dass sie so viel älter als diese Buchhandlung sein müssen und so viel bewundernswerter.
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2012-05-09

Nachträge II

Das U-Bahn-Tier. (Für Anne und Borges.)

Hinab geht es, hinab.
Dahin, wo elektrisches Licht allein herrscht. (Und auch das Andere.)
Mit jeder Stufe,
Mit jedem Abstieg,
Wird ein Mensch zu einem Ding.
Und erst der ersehnte Wiederaufstieg in den Tag läßt,
Die Blässe, den Schweiß, den furchtsamen Blick,
schwinden.

Die Dinge lassen sich halbautomatisch bewegen.
Hier unten.
Schranken werden passiert.
Hier unten.
Chips in Schächte gesteckt.
Karten gestempelt.
Ventilatoren brummen konstant und vertreiben den Staub,
Dieses menschliche, lebendige Etwas, diese organisch-
anorganische Substanz des Lebendigen.
So wird alles dinghaft hier. Oder es vergeht.
Hier. Hier unten. Im Hinab.

Das Rauschen der angestellten Röhren:
Nachrichten von Oberhalb und entzündete Gase.
Das Artifizium ist erreicht,
Es ist unsteigerbare Künstlichkeit.

Dann die Stille vor den Geräuschen,
Alles horcht  und schaut und riecht.
Selbst die Röhren und ihre Freunde, die Ventilatoren,
Scheinen gedämpft.

Das Rumpeln der Ferne wird,
Zur Vibration in den Dingen,
Die mit den Böden sich berühren.
Das einzig Herrschende - neben dem Licht -
Hier unten,
Das mechanische Tier,
Der Apparat,
Er nähert sich.

Sein Ächzen ist atemnehmend.
Entgegen der Natur der Dinge,
Halten sie ein, fliehen nicht.
Ihr Angewurzeltsein kostet sie Überwindung an ihren Plätzen.
Ihr Stillstand für diese Augenblicke,
Steigert die angstgereicherte Dichte der dröhnenden Dunkelheit,
Die das Tier vor sich herschiebt.
Es kommt an.
Es schnauft.
Es öffnet sich.
Die elektrische Raupe lädt zur Fahrt.
Gespenstisch das Suchen der Einstiege durch die Dinge.

Im Innern.
Ein schriller Pfiff. Ein schmerzhaftes, letztes Zuschlagen der Türen,
Bevor dem Entrinnen keine Hoffnung mehr bleibt.
Ein Moment der Trägheit, dann,
Die Fahrt in die Schwärze der Tunnnel.

Alles ist alt, morsch, betagt im Innern.
Die Sitzbretter der Bänke,
Sie pressen auseinander, ihre Farbe,
Zeugt von unzählbar oft überstrichenem Firnis.
Ringe, an Leinen an die Decke gebunden,
Schwingen harmonisch im Gleichtakt,
Zum Fluß über das Gleisbett.
Dunkle Ästhetik im braun-gelben Licht,
Der alten, glimmenden Leuchten.

Abruptes Ende. Kein Ding merkt, wie
Die Fahrt - in der Unendlichkeit der Tiefe -
unterbrochen wird.
Nur, ein letztes Mal,
Werden die Dinge ungewollt vor ihrem Abgang bewegt.
Darauf fliehen sie hinaus, hinaus aus dem Innern,
Die Raupe gibt sie frei aus der Gefangenschaft der Schwärze.
Sie vermischen sich wieder, werden wieder Mensch oder Person.

Und ich?
Betrachte sie ein letztes Mal bevor,
Die Tunnel mich wieder aufnehmen,
Wie das Schraubglas den Glühwurm konserviert.
Ich zittere noch und denke,
Ob ich nicht doch einen Teil meiner Lebendigkeit,
Habe mit mir nehmen können?
Dann die Gewißheit, daß ich schwinge, wie die Ringe an der Decke.
Hinab. Immer geht es hinab.
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2012-05-03

Nachträge I



Ich möchte hier, nach ein wenig Abstand zu meiner vierwöchigen Reise und vor allen Dingen zu meinem ersten Eintrag aus Buenos Aires, noch unbedingt etwas ergänzen und korrigieren.
Als ich über Pendants der Gentrifizierung in BA schrieb, berief ich mich auf lose Gespräche und ein paar Bilder, die mir im Kopf waren. Als ich schlussendlich doch noch nach La Boca kam, mich also in einen Bus setzte, an der Endhaltestelle ausstieg und sah, was ich vorher zu beschreiben suchte, geriet ich ein wenig ins Wanken. Natürlich hat Boca diese knallbunten Anstriche von Fassaden-Wellblechen, und das vergisst auch kein Touri-Guide zu erwähnen. Und auch das Boca-Juniors-Fußballstadion, die darum liegenden Fan-Shops und die gelb-blauen Schalträger sind atmosphärisch toll. Aber daneben wiesen mich zwei Polizisten darauf hin, eine bestimmte Grenze - dank ihrer Geste in eine bestimmte Richtung verständlich - nicht zu überschreiten. Und auch ein paar Wegelagerer waren meinem eigenen Sicherheitsempfinden nicht zuträglich. Soll heißen: Boca hat gewiss ein paar Straßen, in denen Bohème-haftes, günstiges Leben möglich ist, die Straßen dieses Barrios waren angenehm verkehrs-ruhig im Gegensatz zu denen aus Almagro und an den Spieltagen der Juniors bebt vermutlich der Bürgersteig, aber dennoch sollten einige Gegenden nicht betreten werden.
Das Foto oben zeigt übrigens nicht La Boca. Unter anderem deshalb, weil man ab 18 Uhr lieber woanders weilen sollte, was mir ein Bekannte verriet.
Aber das Bild zeigt einen für mich eher seltenen Blick auf scheinbar unbewohnte und unbefahrene Querstraßen auf meinem Weg von San Telmo zurück in mein Zimmer in Almagro und verstömt, wie Boca an meinem Besuchstag, ein leichtes Unbehagen in meiner Erinnerung.
Zum Thema Unbehagen noch zwei weitere Dinge: Auch die Bürger Buenos Aires' sind nicht vor Unsicherheiten gefeit. Und eine Geschichte dieses Satzes handelt tatsächlich von La Boca.
Ein Bekannter setzte sich nach einer langen Party in einen Bus, es ist Sonntagmorgen, und er ist noch betrunken und schläft während der Fahrt ein, sodass er bis zur Endhaltestelle gefahren wird, obwohl er da nicht hin wollte. Er steigt aus, orientiert sich in dem Maß, das seine Verfassung zulässt, stellt fest, er ist in Boca und will zur nächsten Bushaltestelle, die ihn in seine Gegend zurück bringt. Als er ein bisschen läuft, steht plötzlich ein Typ vor ihm, zwei weitere positionieren sich hinter ihm und ihm wird gesagt, dass er doch bitte seine Taschen entleeren solle, weil "Knarre in der Hose". So schnell und einfach werden Überfälle erledigt. Die Situation, so wie sie der Bekannte schildert, ist natürlich unangenehm, aber in der Retrospektive beschreibt er sich eben als den, der nicht aufgepasst hätte und vor allen Dingen, dass die Typen gar nicht so unfreundlich gewesen seien. Auf Nachfrage gaben sie ihm das zurück, was er noch so brauchte, kein Geld,  aber Ausweise. Immerhin.


Ein anderes, in der jungen Gesellschaft verankertes Ritual ist das, was am Ehesten mit "never walk alone at nights" (Geh' nie allein in der Nacht) beschrieben werden kann. Freunde, die gemeinsam auf Partys gehen, werden tunlichst darauf achten, die Veranstaltung gemeinsam wieder zu verlassen. Das führt zwar zu einer leicht eingeschränkten Autonomie - denn derjenige, der gehen will, ist auch immer derjenige, der entweder warten muss oder Druck auf die anderen ausübt, mit ihm zu gehen, aber die Gefahr einer nächtlichen Belästigung ist wohl zu hoch, als dass ein anderes Verhalten sich hätte etablieren können.

Für mich ergeben sich zwei persönliche Eindrücke.
Nach meiner Ankunft dachte ich, es wäre wahrscheinlich, dass etwas aus meinem Zimmer gestohlen werden könnte, weshalb ich dauernd meine Tür abschloss und alles im Zimmer versteckte, was von Wert war. Nach kurzer Zeit konnte ich diese paranoide Vorstellung komplett ablegen und fühlte mich im Hotel sehr sicher und vertraute allen Bewohnern. Ein weiteres Verhalten, das ich an den Tag legte, war, dass ich sehr schnell durch die Straßen ging und dabei ein möglichst neutrales Gesicht machte, um den anderen anzudeuten: Seht, ich habe ein bestimmtes Ziel, ich kenne meinen Weg und ich bin nicht die freundlichste Person der Welt*, also stoppt mich nicht. Ich gebärdete mich in einer völlig übertriebenen Abweisungshaltung für die es in der Gegend, in der ich wohnte, keine Relevanz gab. Nach und nach legte ich auch dieses Sicherheitsverhalten ab und konnte ziemlich gemütlich in der Nacht spazieren, ohne mir Sorgen um mein Wohlergehen zu machen.
Nur dieses eine Mal in Boca war ich in einer Situation, der ich sehr schnell, sehr gerne entfliehen wollte, weil ich mich unsicher fühlte. Die Psychologen unter uns wird es nicht wundern, aber der gesamte Rückweg aus Boca war geprägt von einem Gefühl der dauernden Gefahr, in die ich geraten könnte. Jede unbelebte Straße war unangenehm, jeder Müllsammler ein Räuber. Erst als ich die Dauerbeschallung der Busse wieder um mich hatte, wurde mir wohler.

Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen, schrieb bereits Phädrus. Asche auf mein Haupt für meine vorschnellen Einschätzungen.

*Was auf den Befund rekurriert, dass neutrale Gesichter dazu genutzt werden können, Ableitungen über die Agressivität der Person zu machen. Dies hat mit dem Verhältnis der Breite zur Länge des Gesichts zu tun.
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